12.05.2011 – 12.05.2017: Über nichtdigitale Speichermedien

Barbara Basting, 24.03.2017

Der Facebook-Algorithmus hat mitbekommen, dass ich was mit Kunst und Museen habe und setzt mir aus dem Pool meiner früheren Posts den Schnappschuss eines Louvre-Billets vor. Das Fetzchen hatte zum Zeitpunkt des Postens schon Jahrzehnte als Lesezeichen in einem nichtdigitalen Speichermedium überdauert, einem Taschenbuch aus meiner Pariser Studienzeit.
Mein Louvre-Tag war damals der erste Sonntag im Monat. Gratiseintritt! Zu blöd, die Seitenkabinette mit Dürer und Vermeer waren nur wochentags geöffnet. Für Studierende galt der »tarif réduit C«. Halber Preis, acht Francs: der Gegenwert von drei Baguettes. Heute ist der Louvre für die EU-Jugend bis 26 gratis. Der volle Eintritt liegt bei 15 Euro, Gegenwert von mindestens fünfzehn Baguettes.

 

 


Allerdings ist der Louvre auch um einiges größer als damals. Der »Grand Louvre« mit I.M Peis heftig diskutierter Glaspyramide war eines der »Grands Projets« von Präsident François Mitterrand. Zusammen mit seinem Minister Jack Lang führte er eine Kulturoffensive, als könne man damit die schon angeknackste »Grande Nation« retten. Keine Regierung seither hat noch derart beherzt an die Reformkraft der Kultur geglaubt. Töricht nur, dass selbst der Sozialist Mitterrand quasi royalistisch fixiert war auf »Grandeur« – und auf Paris.
Touristisch ist der »Grand Louvre« zwar ein Riesenerfolg und das meistbesuchte Museum der Welt. Aber trotz der Expansion nach Lens, in die wirtschaftlich gebeutelte Provinz, und trotz Eröffnung einer Islam-Galerie ist der Kulturglaube verdampft, ein Louvre könne den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Eher dienten solche Manöver, wie auch die kontroverse Gründung des Louvre Abu Dhabi, der Profilierung einer kultur­touristischen Marke.
Nun plötzlich dies: Der neugewählte französische Präsident Emmanuel Macron benutzt doch ausgerechnet die neopharaonische Glaspyramide als Staffage für seine erste Rede und legt auch hier die Latte hoch, in dem er auf den »Wagemut der Pyramide« und den Louvre als Gründungsikone republikanischer Kultur verweist.
Nicht nur angesichts solcher Pathosformeln kommen mir meine Louvre-Besuche von 1984 vor wie Tauchgänge in einer Zeitkapsel aus dem 19. Jahrhundert. Ihr Herzstück waren die Grande Galerie und der Ständesaal mit den Italienern sowie die Säle mit den grandiosen Historienschinken von Delacroix und Géricault. Man stand davor und versuchte sich was zu denken.
Denn der Louvre, dieses Produkt der französischen ­Revolution, aus dem sein Gründer Vivant Denon ein ­Museum des Volkes machen wollte, war noch 1984 ein Museum der Eliten. Vermittlung, außer dürren Namens- und Jahresangaben: zéro. Er war aber auch ein Hort der Kunst vor der Bilderflut, ein Museum vor dem Museumsshop, dem Museumsselfie und einer beflissenen Vermittlung. Es gab nichts als die Kunst. Also versuchte man zu verstehen, was diese Kunst war. Wenn man es hier nicht verstand, wo dann?
Über allem lag ein Zauber, den die geölte Kunstkonsummaschine mit Shoppingmall-Direktanschluss für mich verloren hat. Das ­Ticket von 1984 ist unversehens zum Eintrittsbillet in diese Welt von gestern geworden.

 

PS: Die Aktie schwankt um 150 Dollar. Der Ex-Facebook Executive Antonio Garcia-Martinez reflektiert im »Guardian« über ethische Probleme der zielgruppenorientierten Werbung von Facebook: https://www.theguardian.com/technology/2017/may/02/facebook-executive-advertising-data-comment, und der Netzkritiker Geert Lovink fragt in seinem jüngsten Buch: »What is the social in social media«? http://eu.wiley.com/WileyCDA/WileyTitle/productCd-1509507760.html

Corona Park, Nabel der Welt

Barbara Basting, 28.08.2021

Globen haben mich schon immer fasziniert. Deswegen fotografierte ich 2011 dieses ganz besondere Exemplar, das mir der FB-Algorithmus jüngst wieder präsentierte. Es gilt als weltweit grösstes Modell der Erdkugel. Ich entdeckte es im Corona Park im New Yorker Stadtteil Queens, dem Terrain der Weltausstellungen von 1939 und 1964. Ins Queens Museum, dessen überrankte Mauer die rechte Bildhälfte zeigt, ging ich vor allem, um dort das Stadtmodell von New York zu sehen. Das Imponierstück hatte Robert Moses 1964 als deren Leiter für die Weltausstellung in Auftrag gegeben. New York sollte als urbanistisches Wunderwerk, als grandioseste Metropole des 20. Jahrhunderts, als Nabel der Welt erscheinen. Facebook hatte das Bild aus den Tiefen seines Archivs gefischt, während ich über die Hinterlassenschaften eines Künstlers nachdachte, dessen Atelier ich geräumt hatte. Zu diesen gehörte ein ramponierter Globus. Hm, überlegte ich, kann der FB-Algorithmus inzwischen Gedanken lesen? Wird damit ein Menschheits- und vor allem Diktatorentraum definitiv zum Alptraum? Dann fiel mir auf, dass ich in der Legende zum Foto den „Corona-Park“ erwähnt hatte. Daran erkennt man die menschlichen Seiten des Algorithmus: Er spricht, wie wir alle, auf Reizwörter an.

 

 

 

Der Globus aus dem Künstleratelier war im Vergleich zu jenem im Coronapark ein bescheidenes Exemplar. Immerhin kam er aus gutem Hause. Die bis heute bekannte Firma Columbus, früher Berlin, heute Krauchenwies, musste ihn in den frühen Zwanzigerjahren verkauft haben. Denn er bildete die komplette Koloniallandschaft des 19. Jahrhunderts ab. Als Wirtschaftsglobus zeigte er alle Länder mit den Rohstoffen und Produkten, die dort nur noch auf den Abtransport zu warten schienen: ­Baumwolle, Kaffee, Ananas, Diamanten, Kamele oder auch Schwämme (letztere gab es in Libyen). Herrschaftswissen, durchgereicht an die bürgerliche Studierstube. Allerdings nur teilweise: Migrationsströme etwa werden ebenso wenig gezeigt wie Kapitalströme. Öl, das im 20. Jahrhundert Geschichte schrieb, spielte offenbar noch keine Rolle.
Seit die antike Skulptur des Atlas Farnese eines der ersten bekannten Exemplare einer Weltkugel in der Hand hielt, waren Globen ein Symbol der Macht. Ab der Renaissance wurden sie, ähnlich wie Karten, Prestigestücke für Herrschende. Wer die besten Karten und Globen hatte, konnte besser navigieren, regieren und ja, ausbeuten. Irgendwann sank der Globus zum Dekorationsgegenstand für Weltaustellungen und Wohnzimmer, Hotel- und Firmenlobbies, zum Signet für Speditionen und Reisebüros ab. Als Machtinstrument lösten ihn die immer besser gefüllten Datenbanken ab, durch die seither pausenlos Such- und Verarbeitungsprogramme hindurchcrawlen. Die Datenkrake Facebook ist insofern entfernt verwandt mit dem Wirtschaftsglobus. Das Bild weckte bei mir auch Erinnerungen an eine New-York-Reise, die mir heute vorkommt wie ein Märchen aus einer fernen Zeit. Eine Bekannte aus New York meinte kürzlich, die Stadt, wie man sie kenne, als Legebatterie mit angegliedertem Freizeitangebot für 9 Millionen Dienstleistungs-Pendler täglich, könne man in Zukunft vergessen. Somit wäre Robert Moses‘ auftrumpfendes Modellstadt-Stadtmodell schon Teil einer Archäologie der Zukunft.  Das Queens Museum ist derzeit geschlossen. Corona, you name it. Der Globus, vor einigen Jahren ebenso aufwändig restauriert wie das Stadtmodell, steht noch. Einen Moment lang stelle ich mir vor, dass bald alles von den Ranken auf der Museumswand überwuchert wird. Übrigens befindet sich der Corona-Park auf einstigem Indianer-Territorium der Algonquin. Sumpfland, das New York lange Zeit als Müllkippe diente.

 

 

PS: Grosse Konzerne haben jüngst mit Werbeboykotts auf Facebook begonnen, weil sie die mangelnden Vorkehrungen der Plattform gegen Hassreden nicht gutheissen.

Der Algorithmus fördert seit 2017 Gruppen und schützt deren Diskussionsräume. Dies kommt auch gefährlichen rechtsextremen Verschwörungstheoretikern wie QAnon zugute.


Und ja, die FB-Aktie hat sich jüngst deutlich verteuert. Langsamer zwar als die von Tesla oder Amazon. Aber immerhin.

 

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Künstliche und andere Intelligenzen

Barbara Basting, 04.12.2019

Facebooks Bilder-Waschtrommel erinnert mich derzeit an meine erste China-Reise vor einem Jahr. Ich war beeindruckt: So viele Hochhäuser, so viele Menschen, so viel Technologie! Und so tolle Nudelsuppen! Manche Eindrücke deponierte ich auf meiner Facebook-Timeline. Dies, obwohl Facebook durch Chinas Great Firewall gesperrt ist. Die Gucklöcher in der Mauer, so genannte VPNs (virtual private networks), sind offiziell sogar für Ausländer verboten. Doch wehe, wenn man die kleinen Helfer nicht vor dem Grenzübertritt auf seinen Geräten installiert hat: Dann wird der Aufenthalt ohne solide Chinesischkenntnisse anspruchsvoll. Denn Google samt Maps ist in China ebenso gesperrt wie die gesamte Facebook-Twitter-Wiki-Welt und weitere Keimherde der freien Meinungsbildung. Chinesen sind ans Alibaba-Baidu-Universum gebunden. Sicher, die smarteren haben alle VPNs. Aber die Kommunikation läuft hauptsächlich via WeChat, die (ausgebautere) chinesische Variante von WhatsApp. Im Westen benutzt WeChat nur, wer Kontakte mit Festlandchinesen halten will. Der Zensor liest mit.
Google ist in China seit seinem Verbot 2014 eine heiße Kartoffel. So war ich verblüfft, in Shanghai auf dieses Google-Logo zu treffen, vor dem die chinesische Jugend scharenweise für Selfies posierte. Es stand vor einem der neuen, zumeist privaten Museen für Gegenwartskunst, dem Long Museum Westbund. Westbund ist ein etwas steriler Vorzeige-Stadtteil mit abgeriegelten Luxus-Hochhausanlagen, neuen, menschenleeren Boulevards, Flusspromenade zum Joggen und großem Audi-Händler. Überall riecht es nach Aufbruch und Boom.

 


Vor dem Long Museum stand die chinesische Selfie-Jugend dann Schlange. Denn dort fand die World Artificial Intelligence Conference WAIC statt. Leider war das Museum dafür geräumt worden. Meine lange Anreise war für die Katz gewesen. Obwohl, nicht ganz. Denn ich lernte einiges: In China kann ein Kunstmuseum für ein Event einfach mal rasch leergeräumt werden. In China finden junge Menschen Google cool, Verbot hin oder her. Außerdem braucht es für eine World Artificial Intelligence Conference in China offenbar keine Westler. Ich rätselte, wofür das Wort »world« stand. Vielleicht für »Weltbeherrschung« durch Überwachung mit AI? Meine chinesischen Freunde, so aufgeklärt sie sich geben, hören sowas ungern. Wie arrogant von den Westlern, Chinesen für digitale Gefängnisinsassen zu halten! Eine üble Beleidigung! Die Traumata aus der Kolonialzeit sitzen tief und werden, so mein Eindruck, gepäppelt. Schließlich lernte ich sogar die offizielle Sprachregelung kennen. »Überwachung«? Nein. Wir haben es hier nur mit der »fortgeschrittenen chinesischen Technologie« zu tun. Vordergründig ähnelt sie den keinesfalls harmlosen Algorithmen von Google und Facebook. Am Ende jedoch zählt, wer die Instrumente mit welcher Autorität in der Hand hält – und welche Möglichkeiten es gibt, sich dagegen wirkungsvoll zur Wehr zu setzen.

 

PS: Eine laufend aktualisierte Liste der in China gesperrten Websites bietet: https://de.wikipedia.org/wiki/Gesperrte_Websites_in_der_Volksrepublik_China
Mark Zuckerberg findet trotz vehementer Kritik an seiner Datenkrake, das FB im Vergleich mit dem aktuellen chinesischen Angebot noch das kleinere Übel ist: https://www.bloomberg.com/news/articles/2019-10-17/zuckerberg-warns-china-s-censored-internet-could-still-win-out. Die FB-Aktie dümpelt vor sich hin, Tendenz abwärts.

 

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Karl der Große reitet durch Paris

Barbara Basting, 04.12.2019

Facebooks Algorithmus hat mir oft genug Erinnerungen an meine ­Türkei-Reisen serviert, gibt nun aber Gegensteuer und präsentiert plötzlich ganz andere Einträge aus meiner sogenannten Timeline.
Zum Beispiel diese verwackelte Aufnahme eines Reiterdenkmals Karls des Großen, leider nur ansatzweise sichtbar, mit Vasallen. Karl war mir aufgefallen, als ich vor einigen Jahren zu später Stunde die Pariser Île de la Cité querte, während er von Notre-Dame gen Westen ritt. Sein Schöpfer Louis Rochat folgte dem Rezeptbuch der historischen Bühnenbildnerei, mit dem man sich im 19. Jahrhundert Geschichtshelden und, wie nach dem Großbrand von Notre-Dame nun alle Welt weiß, auch Kathedralen zurechtbastelte. Man nehme zum Beispiel ein Szepter, wie es der Louvre für solche Reenactments vorrätig hält. Egal, dass es dem erst 700 Jahre später geborenen Karl V. gehörte. Man füge Komparsen namens Oliver und Roland hinzu. Wer weiß denn noch, dass Roland zum Zeitpunkt der Krönung Karls des Großen schon längst tot war? Man bitte Viollet-le-Duc, der eh grad in Notre-Dame am Werkeln ist, um einen Sockel. Et vive Charlemagne!

 

 


Schon die Zeitgenossen hatten allerdings so ihre Mühe mit dem Koloss. Konzipiert noch unter Napoléon III. und für die Weltausstellung 1867 in Gips modelliert, nach 1870 umstritten wegen des Kriegs mit Deutschland, 1878 dann doch in Bronze gegossen, wurde er erst 1895 von der Stadt Paris erworben und 1908 platziert. Jenem Jahr, in dem Picasso und Braque mit dem Kubismus die Moderne und damit die Dekonstruktion jener opernhaften Wirklichkeitseffekte einläuteten, die das 19. Jahrhunderte so s­chätzte.
Der Kirchplatz war menschenleer, als ich Karl fotografierte. Keine Patrouille, es war vor den großen Terroranschlägen. Während ich mit dem Smartphone hantierte, hörte ich ein Rascheln. Und sah in den Rabatten fette Ratten, die Reste aus weggeworfenen Imbiss-Verpackungen fraßen. Ich stampfte kräftig auf. Sie fraßen ungerührt weiter.
Ich machte auch von ihnen ein Foto, nicht ohne an die unangenehme Lektüre von Camus’ Pest zu denken. Das geblitzte Auge eines riesigen Exemplars leuchtete rot. Später stellte ich die Aufnahme des Denkmals und der Ratte nebeneinander auf Facebook, frei nach Jean-Luc Godard, demzufolge 1 + 1 Bild ein drittes ergibt. Das von mir herbeifantasierte diffuse dritte Bild hatte irgendwas mit der unheimlich heroischen Pose der Zivilisation und der nicht minder unheimlichen Macht resistenter Nager zu tun.
Doch Facebook kassierte bei der erneuten Präsentation die Ratten. Es blieb einzig der Held. Ok, Facebook mag das dritte Bild nicht. Entweder ist das Erinnerungszensur, oder der Algorithmus ist überfordert mit Bildpaaren und der Fantasie, die in ihrem Zwischenraum siedelt. Das lässt hoffen.


PS: Für Infos zum Denkmal danke ich: https://lindependantdu4e.typepad.fr/arrondissement_de_paris/2009/06/la-statue-de-charlemagne-et-ses-leudes-une-statue-qui-a-eu-du-mal-%C3%A0-trouver-une-place-.html
Ach ja, die FB-Aktie hat sich deutlich berappelt trotz der Skandale um ›fake news‹. Hierzu der Untersuchungsbericht des britischen House of Commons: »Disinformation and ›fake news‹: Final report«: https://publications.parliament.uk/pa/cm201719/cmselect/cmcumeds/1791/1791.pdf

 

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Hinter der Great Firewall

Barbara Basting, 26.10.2018

Ich sitze in der Lobby eines Hotels in China. Zum Hotel inmitten einer toskanisch anmutenden Landschaft, in das ich mit anderen Gästen eines wissenschaftlichen Kolloquiums einquartiert wurde, gehören ein Golfplatz, ein Thermalbad sowie eine weitläufige Ferienhaus-Kolonie. Am Horizont Hochhäuser und das Gelbe Meer. Die Gegend gilt als Riviera Chinas und grenzt an die Stadt Qingdao. Unter Kaiser Wilhelm II. war sie für kurze Zeit deutsche Kolonie. Heute boomt die Stadt nicht nur wegen der damals gegründeten Brauerei.
In der Lobby steht ein Glücksspielautomat für Kinder. Man kann Plüschtiere von Walt Disney angeln. Die Bilder von ausgebeuteten Arbeiterinnen in chinesischen Fabriken kommen einem hier schneller als sonst in den Sinn. Als ich kurz darauf meine Facebook-Seite aufrufe, meine ich zu halluzinieren. Denn der Facebook-Algorithmus präsentiert mir ausgerechnet ein Erinnerungsbild mit Plüschtieren. Haben die inzwischen Umgebungssensoren in ihrer App?
Die Aufnahme hatte ich am 10. September 2013 auf dem Taksim in Istanbul gemacht. Ich war für die Istanbul-Kunstbiennale angereist. Im Mai zuvor waren die Gezi-Park-Proteste gewaltsam niedergeschlagen worden. Die Stimmung war spürbar angespannt. Zwar standen die Simit-Verkäufer mit ihren altmodischen Wägelchen wie gehabt auf dem Platz, als sei nichts geschehen, und wie in früheren Jahren kaufte ich einen der spottbilligen Sesamkringel bei einem Verkäufer, der erzählte, ein geflüchteter Ingenieur aus Syrien zu sein. Ringsherum zog bedenklich viel Polizei auf, postierte sich neben den zahlreichen Absperrgittern. Die zuvor zahlreichen Passanten verflüchtigten sich in Windeseile.

 

 


Einer der Straßenhändler ließ Plüschtiere tanzen. Ich erinnere mich, dass ich sie fotografierte, weil sie mir symbolhaft erschienen: Ablenkung und Beschwichtigung angesichts einer ungemütlichen Lage. Zügig lief ich zur Fußgängerzone Istiklal zurück. Gruppen von Demonstrierenden kamen mir entgegen. In den Seitengassen warteten schwere Panzerwagen mit Wasser­werfern. Busse entließen nervöse junge Polizisten in Kampfmontur, halbe Milchbärte, die Gebetsschnur in der einen, die Knarre in der anderen Hand. Auf der Höhe der englischsprachigen Buchhandlung von Galatasaray, in der ich kurz verweilte, stach mir Tränengas ins Auge. Fast im Laufschritt suchte ich mein nahegelegenes Domizil auf. Unterwegs rasselten vor den Läden schwere Eisengitter herunter. Später hörte ich Geknalle, Rufe und Getrappel. Am nächsten Tag las ich, dass es keine Toten gegeben habe.
Das Bild der Tiere vom Taksim ruft diese Erinnerung wach und schiebt sie vor den Anblick der Tiere im chinesischen Glücksspielautomaten, während ich zugleich damit beschäftigt bin, meine Eindrücke aus ein paar wenigen Tagen in China zu sortieren. Gibt es nicht gewisse Ähnlichkeiten mit der Türkei, wie ich sie nach 2000 zuerst kennengelernt hatte? Ein futuristisch gestimmtes Land, das sich mit Haut und Haaren dem Fortschritt verschrieben hatte. Eine stolze Gesellschaft, deren Gewinner ihre Privilegien demonstrativ genießen, als könnten sie auf diese Weise allen, die es noch nicht geschafft haben, als Vorbild dienen. Künstlerische und intellektuelle Eliten, die sich behutsam Freiräume zu schaffen versuchen. In der Türkei war es eine Zeit, in der viel möglich schien. Vorbei. Wie sich eine prosperierende Konsumgesellschaft auf den zentral gelenkten chinesischen Staat auswirken wird, kann niemand sagen. Manche unken, es komme darauf an, ob der Automat genügend Tiere für alle bereitstellt.

 

PS: Der FB-Aktie geht es nicht mehr wirklich gut seit dem Absturz im Sommer. ­Dauernd tauchen neue Probleme auf, zuletzt ein Hackerangriff auf 50 Millionen Profile:  https://www.wired.com/story/facebook-security-breach-50-million-accounts/
Anzeichen einer FB-Dämmerung? Chinesen haben andere Sorgen. Für sie liegen Facebook & Co. hinter der Great Firewall.

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Facebook ist auch nur ein Nagelstudio

Barbara Basting, 10.04.2018

Diese Muster für Fingernagelschmuck fielen mir vor vier Jahren im Fenster eines »Nailstudios« in Salisbury, Südwestengland, auf. Nail­studios begannen mich damals zu interessieren, weil ich vermutete, sie seien so etwas wie soziologische Zeigerpflanzen. Wie bescheuert oder verzweifelt muss eine Frau sein, um sich mitten im Sommer Weihnachtsbäume auf die Nägel applizieren zu lassen?
Inzwischen richtet sich mein Augenmerk mehr auf die Parallelität des Aufschwungs von »Nailstudios« und sozialen Medien. Für den Zusammenhang spricht ein Blick auf das Hashtag »Nailart« auf Instagram (das Facebook gehört). Hier gibt es um die 35 Millionen Beiträge (Stand September 2017).
Man wird melancholisch angesichts der Kreativität, die im digitalen Nirvana verpufft. Wäre ich Kuratorin, würde ich eine Nail-Art-Ausstellung konzipieren. Unterabtei­lungen wie: »Dekor zwischen Ornament und Verbrechen oder Der Lack ist ab«. Miniaturen gestern und heute. Materialitäten der Naildesign-­Kommunikation. Inklusive ein Kapitel zu Nagellacknamen. So heißt eine klärschlammartige Farbe bei einer sehr teuren Firma »particulière«, ein dunkles Braunviolettrot »androgyn«, ein vages Grau ­»horizon«.
In Sachen Miniaturisierung konsultierte ich einen Kunsthistoriker. Der riet mir, eine andere Spur zu verfolgen: Ich solle mal über die ästhetische Betonung der Nägel als Krallen nachdenken. Tierdarstellungen, namentlich von Wappentieren wie Löwe, Adler, Bär böten sich zum Vergleich an. Angebracht seien, fand der kulturwissenschaftlich infizierte Forscher, auch Gender-Reflexionen. Gesellschaftliche Implikationen des Nageldesigns als Indiz der weiblichen Selbstvergewisserung und -stilisierung. Oder so ähnlich.

 

 

Eine Ausstellung zum Thema Oberflächen im Rotterdamer De Nieuwe Institute zu Oberflächen, die ich auf einer meiner Reisen sah, brachte weitere thematische Impulse. In der Schau gab es doch tatsächlich ein Nailstudio. Neugierig näherte ich mich. Noch bevor ich Farbe und ­Dekor ausgewählt hatte, stellte sich die Lackiererin als Museumsmitarbeiterin vor und machte mir klar, dass sie mir aus Kosten- und Zeitgründen nur einen Nagel bearbeiten könne. Dabei war das Museum leer. Als Gegenleistung sollte ich überdies einen Fragebogen zur Ausstellung beantworten. Vermutlich war meine Farbsucht dran schuld, dass ich das Institut mit einem scharfblauen Zeigefingernagel verließ.
Kurz darauf sah ich die Postkarte eines Kunstwerks ­einer mir unbekannten Künstlerin namens Silvia B., das ein ausgestopftes Albinoäffchen zeigte. Alle seine Nägel waren rot lackiert. Eine Pfote ließ es manieriert hängen wie ein Dämchen, während es zugleich seine andere Hand, auch sie lackiert, mit gespreizten Fingern, pardon Pfoten, betrachtete. Ein selbstzufriedenes, ja selbst­ver­liebtes, leicht entrücktes Lächeln lag auf dem Gesicht des Äffchens. Ich kaufte die Postkarte und dachte noch länger ­darüber nach, ob das gute oder schlechte Kunst war.

PS: Die Schweizer Wochenzeitung »WOZ« hat eine Broschüre zur »Digitalen Selbstverteidigung« veröffentlicht. Gegen Datensammler und -sauger wie
Facebook, online erhältlich unter www.woz.ch/verteidigung
Facebook hat im September 2017 publik gemacht, dass es während des amerikanischen Wahlkampfes 2016 via russische Fake-Accounts adressatenorientierte Anzeigen gegen Hillary Clinton in Umlauf gebracht hat. Unter dem Titel »Facebook versus democracy« kommentiert der Medienprofessor Siva ­Vaidhayanathan in der New York Times vom 12.9.2017 besorgt: »We are in the midst of a worldwide, internet-based assault on democracy«. Die Facebook-Aktie umspielt in jüngster Zeit die 180-Dollar-Marke.

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Boutiquen am Bosporus

Barbara Basting, 10.04.2018

Ich bin nicht mehr sehr zufrieden mit Facebook. Denn in jüngerer Zeit scheint der Algorithmus dort ein totales Willkürregime zu entfalten. Noch dazu wird er dauernd verändert. Kaum habe ich mich an den wohligen Begleitstrom der Erinnerungsbilder gewöhnt, beschließt der Herr Zuckerberg, dass damit Schluss ist. Oder bin ich wieder einmal selber schuld, weil ich zu wenig geliket und geteilt habe?
Wie herrlich simpel war der alte Algorithmus gestrickt. Zu einer Zeit, als ich häufiger in Istanbul war, hatte er doch tatsächlich bemerkt, dass ich häufiger in Istanbul war. Ungefähr fünfmal nacheinander bekam ich meine Schnappschüsse von dort zwecks Zwangserinnerung serviert.
Sie sehen hier den lausigsten aller Schnappschüsse. Beim Herumstromern war ich auf diese Pailletten-Karyatiden und das etwas beklemmende Treppenhaus gestoßen, wo sie Spalier standen.
Wir befinden uns nahe der Metrostation Osmanbey auf der europäischen Seite Istanbuls. Hier gibt es einen Cluster von Boutiquen mit religionskonformer Damenmode. Im Angebot sind zum Beispiel hochgeschlossene lange Mantelkleider. Nein, nicht diese trostlosen beigen Säcke, sondern auf Taille geschnittene Kreationen in farbigen Stoffen. Kapuzen dienen als Kopftuchersatz. Etliche Schnitte sind recht fesch und für gazellenhaft schlanke Frauen gemacht. Dazwischen gibt es immer wieder Schaufenster mit fantasiegesteuerter Abendmode, die alles in den Schatten stellt, was man so an Oscarverleihungen sieht.

 

 

Gerne hätte ich die Boutiquen näher inspiziert. Aber nachdem mir aufgefallen ist, dass das Personal durchweg aus je drei Männern besteht, meist zwei jüngeren und dem Boss, ziehe ich mich vorsichtig zurück. Denn sie mustern mich eher missbilligend durch ihre Schaufenster, vor denen ich, in Jeans und Sneakers gekleidet, stehe und hineinglotze wie ein Kind in ein Aquarium. Sehen sofort, dass ich nicht zu ihrem Kundinnensegment gehöre, wenden sich ihrem Teeglas oder den mit Kilometern von Plastikfolie zusammengepressten, chinesisch beschrifteten Kleiderballen zu, die gerade angeliefert worden sind.
Irgendwo hatte ich Geschichten von Istanbuls boomender Modeszene gelesen. Sie erweckten den Eindruck, dass Istanbul sich anschickt, in eine Aufzählung vom Typ »Paris-London-New York-Milano-Tokyo« zu passen. Ich kam ins Grübeln. Vielleicht musste ich mein Verständnis von Mode überprüfen.
Später fielen mir in der unendlichen Warteschlange vor der Gepäckkontrolle am Flughafen Atatürk die Gruppen schwarz verschleierter Frauen auf, die gigantische Koffer und mit braunem Klebeband umsponnene Pakete auf die Fließbänder wuchteten. Ich ahnte, was in den Paketen war. Istanbul, soviel verstand ich, ist jetzt die Shopping Mall des Nahen Ostens, und aus dem Knotenpunkt der Seidenstraße ist ein Polyesterhub geworden. Bis heute bedaure ich übrigens, dass ich die Treppe in Osmanbey nicht hinaufgestiegen bin.

PS: Mit der Facebook-Aktie ist das so eine Sache: rauf runter rauf runter. Hat sie ihre besten Zeiten gesehen?
»Du bist das Produkt«: John Lanchesters profunde Analyse der Datenkrake Facebook https://www.theatlantic.com/technology/archive/2017/09/what-we-dont-know-about-what-facebook-knows/539010/ kann man in deutscher Übersetzung hier lesen und hören: http://www.deutschlandfunk.de/ueber-facebook-du-bist-das-produkt.1184.de.html?dram:article_id=397257
Das Thema »Bots«, sprich fiktive Follower, ist noch lange nicht gegessen:
https://www.nytimes.com/interactive/2018/01/27/technology/social-media-bots.html

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12 Feb 2011 — 12 Feb 2017

Barbara Basting, 24.03.2017

Kürzlich wollte Facebook mit mir feiern. Zu dem Zweck hat das Unternehmen mir einen Eintrag auf meine Pinwand gepostet, die eigentlich für andere gesperrt ist. Wegen der Trolle. Aber für die FB-Leute gilt die Sperrung offenbar nicht. Steht sicher im Kleingedruckten. Der Post, den ich hiermit teile, hat mich leicht verstört: »Barbara ist Facebook vor 6 Jahren beigetreten«! Auf dem größten der Buttons, die das zugehörige Bild zeigt, erkenne ich mein Profilbild. Ein Selfie, das ich vor einiger Zeit vor einer stark gewellten Alufolienwand in einer Ausstellung von Joëlle Turlinckx im Museum für Gegenwartskunst in Basel aufgenommen habe und auf dem ich aussehe wie eine ölige Farbschliere. Absurder Tarnungsversuch. Auf den kleineren erkenne ich die Selfies einiger meiner sogenannten Facebook-Freunde. Mitten in dem -Button-Salat ein Pfeil. Eine Animation zum Anklicken.

 

 

 

 

Ich möchte an dieser Stelle dringend davor warnen. Es ist oberpeinlich. Eine Verhöhnung. Zum Dank für die jahrelange Mitgliedschaft bei FB wird mir eine extrem anspruchslose Animation im Stil eines etwas dümmlichen Kinderbuchs geboten. Sie zeigt als erstes einen Ballon, der in einen blauen Himmel aufsteigt, mit einem Wow-Smiley. Unten dran hängt eine Karte mit meinem Vornamen. Es folgt der Text: Heute mag ein ganz normaler Tag sein. Und doch ist er etwas ganz Besonderes. Warum? Natürlich wegen dem -Facebook-Jubiläum. Seit dem 12. Februar 2011 bin ich demnach bei Facebook. Die Animation präsentiert mir als nächstes eine Flippermaschine, in der oben ein Kalenderblatt mit dem magischen Datum eingefüllt wird. Dann laufen Like-Love-Wut-Buttons wie Flipperkugeln durch die Maschine, und nebst ein paar Bildern aus meiner »Timeline« genannten Vergangenheit sondert die Flippermaschine einen altjüngferlichen Stoßseufzer ab: »Wie die Zeit vergeht!« Die fünf, sechs darauf folgenden Fotos hat die algorithmische Schöpfkelle rausgefischt.

Da mir mein Facebook-Jubiläum so plastisch vor Augen geführt wird, drängt sich mir der Vergleich mit Dienstjubiläen in meinem bisherigen Angestelltendasein auf. Der Weltenlauf bringt es mit sich, dass das Ausharren auf einer Stelle heute nicht mehr so großzügig honoriert wird wie früher. In aller Regel sollte man froh sein, wenn man bleiben darf oder es lang genug in einem Betrieb aushält. Dies insbesondere, wenn es nicht nur darum geht, den Lebensunterhalt zu sichern, sondern auch noch Sinn und, ganz altmodisch, Erfüllung in der Arbeit zu finden. Leider zeigt die Gratisarbeit für Facebook hier keinen überzeugenden Weg auf.

Immerhin bietet sie eine Gratifikation in Form von Likes und Gratis-Erinnerungen. Genauer gesagt, sind es algorithmisch generierte Zufalls- und Zwangserinnerungen. In einer klugen und ziemlich einleuchtenden Studie des Literaturwissenschaftlers und Social-Media-Experten Roberto Simanowski habe ich jüngst gelesen, dass sich diese Erinnerungen gerade wegen ihrer algorithmischen Zufälligkeit nie und nimmer zu einer echten, kohärenten Erzählung fügen werden, sondern uns immer nur mit der Illusion einer solchen ködern. Leider funktioniert dieser Bild-Köder bei mir prächtig, ich gebe es zu. Da Facebook es an der materiellen Gratifikation ebenso fehlen lässt wie an einer Entlöhnung, beschloss ich, mich fortan auch pekuniär am von mir mitverursachten Erfolg des Netzwerks als Werbeplattform zu beteiligen. Ich habe mir zu meinem Facebook-Dienstjubiläum eine Facebook-Aktie gekauft (Einstiegspreis: rund 133 Dollar). Nun wollen wir mal schauen, wie sich das Geschäft mit den Illusionen entwickelt.

 

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