Slavoj Žižek: »Beschreibung ohne Ort«
»Beschreibung ohne Ort«
(p. 141 – 161)

Über den Holocaust und die Kunst

Slavoj Žižek

»Beschreibung ohne Ort«
Über den Holocaust und die Kunst

Traduit par Andrea Stumpf et Gabriele Werbeck

Slavoj Žižeks Beitrag handelt von der Ästhetisierung des Holocausts. Gegen die viel diskutierten Argumente, die eine Darstellbarkeit des Undarstellbaren in Frage stellen, vertritt Žižek die These, dass eine Ästhetisierung des Traumas des Holocausts zwingend ist. Nicht die Lyrik sei nach Auschwitz unmöglich geworden, sondern die Prosa, die Gefahr läuft, den Holocaust auf eine dokumentarische Beschreibung zu reduzieren. Ein Minimum an ästhetischer Sensibilität verhindert, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust in ein ästhetisches Genießen pervertiert.


Im berühmten letzten Satz aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus – »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« – steckt ein augenfälliges Paradox: Er formuliert ein überflüssiges Verbot, denn er verbietet etwas, das an sich bereits unmöglich ist. Dieses Paradox spiegelt exakt die vorherrschende Haltung hinsichtlich der ästhetischen Darstellung des Holocaust wider: Man soll es nicht tun, weil man es nicht tun kann. In der Verkehrung dieses Verbots bei Jorge Semprún spielt dessen spanisch-katholische Herkunft eine entscheidende Rolle. Elie Wiesel sagte, man könne keinen Roman über den Holocaust schreiben: ein Text, der das vorgibt, sei entweder kein Text über den Holocaust oder es sei kein Roman. Dieser Behauptung, Literatur und der Holocaust seien unvereinbar, setzt Semprún entgegen, der Holocaust könne nur durch die Kunst dargestellt werden: falsch sei nicht die Ästhetisierung des Holocaust, sondern dessen Reduzierung auf einen Gegenstand dokumentarischer Berichterstattung. Jeder Versuch, die Fakten über den Holocaust auf dokumentarische Weise wiederzugeben, neutralisiert das Traumatische an den beschriebenen Ereignissen – oder, mit den Worten von Lacan, einem anderen atheistischen Katholiken: Wahrheit hat die Struktur der Fiktion. Kaum einer kann einen Snuff-Film, in dem tatsächliche Folter und Mord gezeigt werden, ertragen, geschweige denn genießen, aber als Fiktion können wir es genießen: Wenn die Wahrheit zu traumatisch ist, um uns ihr direkt auszusetzen, können wir sie nur in der Maske der Fiktion akzeptieren. Eine unverhüllte Dokumentation über den Holocaust wäre obszön, wenn nicht sogar respektlos gegenüber den Opfern. Der Genuss ästhetischer Fiktion ist demnach nicht einfach nur eine Flucht, sondern eine Möglichkeit, mit traumatischen Erinnerungen fertig zu werden: Es ist ein Überlebensmechanismus.


Deshalb müssen wir Adornos berühmten Ausspruch an dieser Stelle korrigieren: Nicht die Lyrik ist nach Auschwitz unmöglich geworden, sondern die Prosa. Realistische Prosa versagt, wo die poetische Schilderung der unerträglichen Situation in einem Lager gelingt. Wenn Adorno also erklärt, es sei unmöglich (oder vielmehr barbarisch), nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, dann handelt es sich bei dieser Unmöglichkeit um eine Unmöglichkeit, die Möglichkeiten schafft: Gedichte »handeln« per definitionem immer von etwas, das nicht unmittelbar ausgesprochen, sondern nur angedeutet werden kann. Man sollte sich nicht scheuen, noch einen Schritt weiter zu gehen und auf das alte Sprichwort zu verweisen, wonach da, wo Worte versagen, die Musik beginnt. An der Auffassung, dass die Musik von Schönberg den Schrecken und das Grauen von Auschwitz in einer Art historischer Vorahnung vor dem eigentlichen Geschehen zum Ausdruck brachte, könnte etwas Wahres sein.


Wie können wir der Gefahr...

  • Theodor W. Adorno

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Tobias Huber (éd.), Marcus Steinweg (éd.): INAESTHETIK – NR. 1

Um das Thema »Politiken der Kunst« gruppieren sich die Texte der Nummer 1 der Zeitschrift INAESTHETIK. Gibt es einen politischen Auftrag des Kunstwerks? Wie bestimmt sich der Ort des Kunstwerks im sozialen Feld? Wie verhalten sich Kunstproduktion, Kunstkritik, Kunstwissenschaften und Philosophie zueinander? Ist Kunst zwingend kritisch: institutions-, markt- und ideologiekritisch? Oder setzt das Kunstwerk noch der Kritik und ihrem guten Gewissen Grenzen, die aus ihm eine riskante und vielleicht notwendig affirmative Praxis machen? Liegt der Sinn in diesen immer wieder mit dem Kunstwerk verbundenen Kategorien des Widerstands und der Subversion nicht auch in einer Art Selbstberuhigung, die es dem Künstler und der Künstlerin erlaubt, am politischen Spiel ohne wirklichen Einsatz teilzunehmen, sodass das politische Bewusstsein die Funktion einer uneingestandenen Entpolitisierung übernimmt? Wie affirmativ muss ein Kunstwerk sein, um subversiv oder politisch sein zu können?

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