Lieber Paul,
ich mag die billigen Jerry-Cotton-Heftchen aus den 60ern. Da wird noch anständig geraucht und Whiskey gekippt – und da werden Fotos noch ganz genau unter die Lupe genommen. Ein Umstand, den ich heute oft schmerzlich vermisse, vor allem bei mir bekannten Kuratorinnen und Kuratoren. Kürzlich sagte mir eine Kuratorin am Telefon, dass sich seit der Digitalisierung der Fotografie eine solche Fragestellung wohl erübrigt habe; dabei hatte ich sie nur gefragt, inwiefern, würde man ein Negativ verkehrt in die Bühne des Vergrößerungsgerätes einlegen, ein derart belichtetes Positiv noch der darauf abgebildeten Wirklichkeit entspräche? Ein solches Positiv, so meine Annahme, sei doch identisch mit dem seitenverkehrten Bild auf der Mattscheibe einer Kamera und entspräche – da die Weltkoordinaten bereits in Kamerakoordinaten übersetzt vorlägen – mehr dem Blick des Fotografen auf ein (Ab-)Bild der Welt als der Welt an sich. Ja, wollte ich weiter ausführen, unser Blick auf unser Spiegelbild sei doch gleichermaßen eine erste Abstraktion von Wirklichkeit; wir bräuchten sogar den Blick über zwei Spiegel, um uns so zu sehen wie die Welt uns sieht. Doch dazu kam ich nicht, da sich sowohl die Fragestellung, so die Kuratorin, wie auch eine Antwort im Zuge der Digitalisierung erübrigt hätten. Dabei scheint mir die Spiegelbildlichkeit (oder Händigkeit) nach wie vor eine der substantiellsten fotografischen Fragen zu sein. Nicht nur für den linkshändigen Mörder bei Jerry Cotton, der – hätte ein schussliger Polizeilaborant den Film falsch herum eingelegt – als fotografisch bewiesener Rechtshänder dem elektrischen Stuhl wohl entgangen wäre, wenn nicht ein findiger G-man in der rechten unteren Ecke eine Autonummer und im Hintergrund eine Schaufensterbeschriftung entdeckt hätte, beide unleserlich, weil seitenverkehrt bzw. horizontal gespiegelt, aber trotzdem noch wahrheitsgetreu und unverzerrt dem Abgebildeten verpflichtet wie ein Druck dem (ebenfalls seitenverkehrten) Druckstock. Aber eben: unleserlich. Denn Schriftzeichen, und mit ihnen alle Zeichen, werden gespiegelt zu etwas ANDEREM (ausgenommen die symmetrischen wie die 8, die Großbuchstaben H, W, I oder ein stilisierter Adler auf einer Wappenscheibe), was ja den hinlänglich bekannten Unterschied zwischen Abbild und Zeichen ausmacht. Das kleine Wörtchen PIPIFAX mag dies illustrieren: Ursprünglich verwendeten die Juden den Gottesnamen YHWH (Jahwe) auch in griechischen Bibelübersetzungen. Es wurde festgelegt, dass die hebräische Schreibweise des so genannten Tetragrammatons exakt beibehalten werden soll. Es schrieb sich von rechts nach links. Die Schreibweise der Griechen war jedoch von links nach rechts, YHWH lasen die Griechen deshalb als HWHY. Die vier hebräischen Schriftzeichen ähnelten den griechischen und lasen sich für Griechen wie PIPI. Bei einer Lesung des Bibelfaksimile fragten die Griechen, was denn PIPI in dem Fax (für Faksimile) bedeuten soll. Es war für sie unverständlich, und deswegen sprachen Leser der Abschriften von einem PIPI-Fax. In der heutigen Umgangssprache bedeutet PIPIFAX soviel wie Unsinn, Kleinigkeit, Mist. Im Spiegelbild hat der Name Gottes also die Bedeutung Unsinn, Kleinigkeit, Mist – kurz, das Zeichen stimmt offensichtlich nicht mehr mit dem Bezeichneten überein. Doch zurück zur Fotografie: Wenn wir die fotografische Aufnahme eines Hauses horizontal spiegeln würden, bliebe alles gleich und doch nicht gleich. Was oben ist, bleibt oben, das Dach wäre am Ort, die Türe auch, die Fenster, der Kamin am rechten Platz; und doch wäre alles verkehrt, seitenverkehrt. Die Bedeutung jedoch änderte sich nicht: das Haus bleibt das Haus bleibt das Haus. Ein Betrachter müsste, sofern er den Ort und das Haus nicht aus eigener Anschauung kennen und erinnern würde, davon ausgehen, dass alles seine Ordnung hat. Aber nun hängen wir in Gedanken ein Schild ans Haus mit einer Aufschrift, sagen wir: JERRY COTTON. Auf dem gespiegelten Bild wäre nun NOTTOC YRREJ zu lesen, was zwar nichts bedeutet, aber für jeden des Lesens und Schreibens fähigen Betrachter Indiz genug wäre, dass etwas...