Fragmente eines unendlichen Gedächtnisses
Traduit par Heinz Jatho
Date de parution : 11.12.2017
Eines Abends auf dem Boulevard Beaumarchais bin ich auf die Idee gekommen – eine, ehrlich gesagt, ziemlich unklare, gleichsam wider meinen Willen aufgetauchte und dann sehr schnell wieder verschwundene Träumerei – eines Abends also bin ich auf die Idee gekommen, auf Google danach zu suchen, was ich vorgestern eigentlich getan und wo ich mich um fünf Uhr abends befunden hatte, denn meine Erinnerungen waren konfus und blieben stumm. Es muss im November oder Dezember 2008 gewesen sein; ich entsinne mich der Kreuzung in der Nähe des Cirque d’Hiver, an der ich die Straße überqueren wollte, entsinne mich des Lichts an diesem kalten und grauen Nachmittag, und des Einfalls, der mir blitzartig durch den Kopf ging.
Es ging nicht bloß darum, diese Informationen wiederzufinden, als ob irgendein rätselhafter Engel, Spitzel oder Chronist sie in Verwahrung genommen hätte. Ein Bürger Ostdeutschlands hätte auf dieselbe Frage mit einer Konsultation seines Dossiers beim Staatssicherheitsdienst reagieren können, und diese Möglichkeit ist bereits auf ihre Weise erschütternd. In dem Augenblick, von dem ich spreche, ging es um etwas anderes: um eine Vision des bereits in sein digitales, verlangsamtes, verschwommenes, zitterndes Bild transformierten gegenwärtigen Augenblicks, wie die kurzen Videos, die man beim Stöbern auf YouTube findet.
Mit einem Mal waren solche Bilder nicht mehr bloß die unvollkommene und wunderbarerweise gestohlene Spur vergangener Augenblicke. Vielmehr trat die Welt in die Seinsweise ein, für die sie exemplarisch sind: Sie machte sich bereit, folgsam in ein unendliches Reservoir von Bildern einzugehen, dem wir später das Bild eines jeden vergangenen Augenblicks entnehmen könnten. Bei den Bildern, die wirklich gespeichert sind, können wir das. Der Traum bestand darin, dass zwischen den wirklich gespeicherten Augenblicken und den anderen, die nicht gespeichert werden konnten, kein Unterschied mehr bestünde. Die Welt bliebe auch ohne die Intervention eines technologischen Dritten perfekt konserviert. Dieser Übergang zu einer neuen Seinsweise, dieses Erinnerungs-Bild-Werden sozusagen war es, das ich in einem Augenblick der Verwirrung flüchtig erfasst hatte, und die Portale des Internet waren nichts anderes als die Quellen, aus denen man ein paar von jenen zahllosen Bildern, in Gestalt derer sich die gesamte Vergangenheit der Welt erhalten hatte, schöpfen würde. Die Technologie war nicht mehr das, was speichert, sie schuf Zugang zu einer Speicherung des Seins durch sich selbst.
Claude Lévi-Strauss sagt irgendwo, dass zwei bis drei Minuten eines Films, den eine Kamera in den Straßen von Athen zur Zeit des Perikles aufgenommen hätte, genügen würden, um unsere gesamte Geschichtsschreibung der Antike umzustürzen.
Ginge es nach dem von mir beschriebenen Traum, so könnte man in den Tiefen von YouTube mit ein wenig Geduld diese drei Minuten von Sonne, Staub, Gerede und von zum Schneiden dichten logos wiederfinden.
Eine alte Träumerei verortet den Vorrat der Vergangenheit in der Weite des Weltraums. Der Gesang XXXIV des Rasenden Roland beschreibt den Mond als den Ort der wiedergefundenen Zeit. Da sind die von der Erde getilgten Dinge versammelt – die Tränen und die Seufzer der Liebenden, die am Spieltisch vergeudete Zeit, die nie ausgeführten Projekte, die ungestillten Bedürfnisse, der Ruhm der verschwundenen Könige und der von der Landkarte getilgten Reiche. Eine prägnante und durch Science Fiction erneuerte Träumerei: Das Rührende an Begegnungen der dritten Art ist die Vorstellung, dass die im Bermuda-Dreieck verschwundenen Luftschiffer sich anderswohin, zu extraterrestrischen Engeln, begeben hätten, deren kaum wahrgenommenes Profil im Wesentlichen einen Sieg über die Zeit bedeutet, als ob der Verlust der geliebten Wesen niemals absolut wäre, als ob sie, erwartet von uns und uns erwartend, irgendwo in Reserve bereitstehen könnten, als ob dieses Verschwinden der Preis wäre, der für ein Heil, das die Möglichkeit eines letzten Wiederfindens immer offen ließe, zu entrichten ist.
Psychopathologie des digitalen Lebens, 1 – F.: »Ich habe immer öfter das Gefühl, den Kontakt mit den Dingen mit materieller Ausdehnung zu verlieren. Um mich herum wird diese Welt einem Limbus immer ähnlicher, einer ungeheuren Rumpelkammer, wo sich hinter einer geschlossenen Tür, die man, aus Angst vor dem Durcheinander, das einen erwartet, nicht mehr zu öffnen wagt, die Dinge ohne Ordnung häufen. Früher konnte ich alle meine zahllosen Bücher augenblicklich finden; heute fällt mir das viel schwerer, so wie alle meine Beziehungen zu den Dingen, mit denen ich nicht durchs Internet verbunden bin, schwieriger werden. Auf Google kann ich nicht fragen, wo meine Schlüssel sind, kann nicht auf sie einwirken oder meine Bücher heranholen. Es gibt immer mehr Aktionen, die sich ganz durchs Internet vollziehen; diejenigen, die noch physische Gesten verlangen, sind mir fremd und fast unmöglich geworden. Wenn man mich bittet, Formulare auszufüllen und sie per Post zu verschicken, bin ich ratlos. Daran bin ich nicht mehr gewöhnt. Die Vorstellung, ein Papier suchen zu müssen, das ich besitzen müsste, macht mir Angst. Alles, was nicht digital ist, scheint mir auf Anhieb zerbrechlich, verloren, keinem irgend gearteten Zugriff mehr offen, unauffindbar wie eine Nadel in einem Heuhaufen. Und wenn ich diese Papiere ordnen muss, die, die ich seit langem schon besitze, und die, die noch immer in übergroßer Zahl bei mir eintreffen, sage ich mir mit Schrecken, dass all diese bedeutungslosen Dokumente, die ich wegwerfen will – Kinokarten, Tourismusbroschüren, alte Kontoauszüge, von denen ich mir einmal gesagt habe, dass sie, aus ein paar Jahren Abstand gesehen, erstaunlich genau meine Handlungen archivieren würden –, dass all diese Dokumente mit der Zeit vielleicht erheblich an Interesse gewinnen könnten, indem sie zu Spuren, Zeugnissen, zu Quellen von Erinnerungen und sogar, in einer etwas ferneren Zukunft, zu Raritäten, zu historischen Dokumenten werden, zu Materialien für ein Kunstwerk. Wenigstens kann man in dem, was ich nicht anders benennen kann als die digitale Ausdehnung, alles speichern, ohne wählen zu müssen.«
»Ich glaube«, sagte Jaques Derrida in Ghost Dance, »dass die Zukunft den Phantomen gehört und dass die moderne Technologie der Bilder, der Kinematographie, der Telekommunikation, etc., die Macht der Phantome verzehnfacht.« In demselben Abschnitt dieses Films, in dem er von Pascale Ogier in seinem Büro in der École normale befragt wird, erklärt er: »Ich bin das Phantom.« Er glitt in das Bild, das von ihm eben aufgenommen wurde, hinein und verschwand sogar dahinter. Das Bild war es, das er an seiner Stelle sprechen, oder, wie er sagte, »bauchreden« ließ.
2007 oder 2008 bemerkte ein Kommentar zu diesen von YouTube verbreiteten Bildern – heute kann ich ihn nicht mehr finden –, dass solche Aussagen, wenn man sie sich ansieht und anhört, jetzt mit einer hinreißenden Genauigkeit sozusagen in ihre Bedeutung eintreten – jetzt, nachdem Derrida tot ist und diese alten, weiterhin im digitalen Raum sprechenden Spuren von ihm überleben. Die Bilder sagen die Wahrheit, wenn sie sich als Phantome bezeichnen – als Halbwesen, die aus einer vergangenen Existenz emanieren, die die Selbstpräsenz des Bewusstseins nicht mehr haben und sich in einer eigenen Zeitlichkeit, die, da nicht mehr von den biologischen Gesetzen von Leben und Tod regiert, potentiell ewig ist, perpetuieren.
Leibniz hat die Hypothese eines »Horizonts des menschlichen Wissens«, aus dem man die Notwendigkeit der ewigen Wiederkehr ableiten könnte, aufgestellt. Er hat mit dieser Hypothese gleichsam gespielt, ohne dass man sagen könnte, dass er sie sich zu eigen gemacht hat. Die Überlegung ist ungefähr die folgende: Jedes Ereignis kann Anlass geben zu einer Aussage. Es existiert jedoch eine Gesamtzahl der Aussagen, die mit den Buchstaben des Alphabets gebildet werden können. So groß diese Zahl sein mag, sie ist und bleibt endlich, wie die schwindelerregende Zahl der Sandkörner der Wüste endlich ist. In einem Text setzt Leibniz die Obergrenze – den Horizont – dessen, diesseits von dem die genaue Zahl aller möglichen Aussagen liegen muss, auf 107300000000000 fest. Einmal wird der Tag kommen, wo alles gesagt sein wird, wo es nichts mehr zu sagen gibt, was nicht schon gesagt wäre. Dann wird, kraft der Korrespondenz zwischen den Fakten und den Diskursen, kein Ereignis mehr stattfinden können, das nicht schon stattgefunden hätte. Die Welt wird ihren Vorrat an Ereignissen erschöpft haben. Sie wird enden und neu beginnen.
Perfekt wird das Szenario an dem Tag sein, an dem jeder unserer mentalen Akte den Anlass für einen elektronischen Abdruck, für irgendwelche »Daten« liefern wird. Wir sind nicht weit davon entfernt, aber der jetzige Stand im Prozess des Eindringens des Internet in die Totalität der Existenz würde bereits dafür ausreichen, dass die Realisierung dieser Hypothese unser Wertesystem vollständig umstürzt.
Früher passierte es uns, Strophen von Gedichten, historische Fakten, theoretische Sätze, lateinische Wörter, etc., zu vergessen, Dinge, die man uns in der Schule lernen ließ, weil die früheren Generationen sie für wesentlich gehalten hatten – oder solche, die wir uns aus Lust, aus eigener Neigung angeeignet hatten, die aber nichtsdestoweniger aus unserem Geist zu entfliehen drohten, wenn wir uns nicht anstrengten, sie festzuhalten. Unser Gedächtnis der äußeren Kenntnisse schien verwundbar und von unserem Willen abhängig, unser persönliches Gedächtnis dagegen hatte etwas von einer Festung. Von Zeit zu Zeit wusste man nicht mehr, wer 1952 Ratspräsident oder 1970 Fußball-Weltmeister gewesen war, aber man konnte sich sagen, dass es zumindest ein Ding gab, das man niemals vergäße oder das man, es sei denn durch einen tragischen Unfall, niemals so vergessen würde wie alles Übrige, nämlich unser eigenes Leben.
Jetzt, da wir mit dem Internet über ein gigantisches mnemonisches Hilfsmittel verfügen, das fähig ist, fast allen Schwächen unseres Gedächtnisses der äußeren Kenntnisse abzuhelfen, ist es unser persönliches Gedächtnis, das plötzlich durch einen neuen Kontrast von einer beunruhigenden Ungenauigkeit geschlagen zu sein scheint. Mein Leben ist, unsere Leben sind nicht verifizierbar, obwohl dank der Vermittlung von Google immer mehr Dinge – Dinge, die wir zuvor für unsere Erinnerung definitiv verloren gehalten hatten – verifizierbar sind. Wenn ich mich nach dem Verlauf der Schlacht von Leuktra frage, antwortet mir das Internet; wenn ich mich nach einem Moment meiner Vergangenheit frage, antwortet es nicht. Ich habe davon geträumt, dass wir eines Tages im Internet die Spuren noch der bedeutungslosesten Ereignisse unserer Existenz finden würden, diejenigen, die keine Aussicht haben, von irgendwem erfasst zu werden, als ob alles, was stattfindet, automatisch registriert würde und das Internet nur das Medium wäre, das zu diesem spontanen Gedächtnis des Seins Zugang verschafft. Wäre das möglich, hätte man das Gefühl, in eine unerhörte Dimension einzutreten. Aber dass es unmöglich ist, schafft eine gewisse Fremdheit, die vielleicht nicht weniger groß ist. Was uns am tiefsten angeht, gehört jetzt zu den ungewissesten Dingen überhaupt – den Dingen, die am wenigsten einer beruhigenden Verifizierung zugänglich sind. Die Grenzen unserer Identität verschwimmen, während so viele Sachen sich klare, fest gegründete Biographien erobern. Wir haben uns nicht geändert, aber die Dinge um uns herum, während wir selbst in die Kategorie der brüchigen Wesen, in eine Art ontologischer Zone zweiter Klasse abgesunken sind, wie ein altes Wohnviertel in einer expandierenden Stadt, das inmitten immer zahlreicherer, immer modernerer, immer soliderer Bauten, die auf uns herabsehen, immer verlorener daliegt.