Das nach längerer Renovierung gerade neu eröffnete Pariser Musée de Cluny beherbergt neben einer eminenten Mittelaltersammlung in einem seiner hintersten Räume einen wahren Schatz: Die Dame mit dem Einhorn – sechs Wandteppiche von bis heute nicht vollständig aufgeklärter Provenienz und unverbrauchtem Glanz. Die Deutungen sind zahlreich, Rainer Maria Rilkes Schilderungen in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge berühmt. Trotz den Versuchen kunsthistorischer Einordnung und der Interpretation des Werks als Darstellung der »Fünf Sinne« ist das Ensemble der Dame mit dem Einhorn bis heute vor allem eines: Ein geheimnisvolles Meisterwerk von hinreißender Schönheit und eine zeitlose Projektionsfläche für das dem Blick innewohnende Begehren.
Auch Yannick Haenel erlag seinem Zauber, der Überfülle an Farben, floralen Motiven und heraldischen Symbolen, dem dichten Gewebe der Bezüge von einer Tapisserie zur anderen, der subtilen Anordnung der Figuren und den feinen Andeutungen eines ekstatischen Verlangens. Indem er die Dame mit dem Einhorn über Monate hinweg in seinen Leben dringen, sich von diesem Abenteuer seine Sätze diktieren lässt, eröffnet ihm das singuläre Kunstwerk schließlich eine ganz eigene und zugleich universelle Empfindung, jene eines »einzigen Begehrens«. Ein funkelnder Essay und eine Huldigung an die Wirkkraft ästhetischer Erfahrung.