The Next Bit. Hautnah am Körper des Unbekannten
Traduit par Mário Gomes
Date de parution : 10.04.2018
Stellen wir uns vor, wir befinden uns in der Gegenwart eines unbekannten »semiotischen Objekts«. Es könnte sich um ein Gemälde, einen literarischen Text, ein Musikstück, ein Computerprogramm, ein kulturelles Artefakt im weitesten Sinne handeln: Das spielt im Moment keine Rolle, was uns interessiert, ist der fremde Charakter dieses Objekts, von dem wir zunächst einmal nichts wissen. Verweilen wir einen Augenblick in diesem interpretatorischen Schwebezustand. In Wirklichkeit gibt es diese Art von Tabula Rasa nicht, denn jedem Objekt, das zu uns gelangt, geht eine Bandbreite an Vorwegnahmen, Berichten, Spoilern voraus; und selbst wenn wir vor solcherlei Konditionierungen verschont blieben, würden wir mit Sicherheit zuallererst die Blase purer Neuigkeit aufplatzen lassen, indem wir uns zu einer Reihe von Annahmen – aus dem Kontext heraus oder auf Erfahrungen beruhend – hinreißen lassen würden. Stellen wir uns also eine künstliche Intelligenz vor, die gerade auf die Welt gekommen und durch keinerlei Konditionierung geprägt ist. Wie würde dann die Lektüre beginnen? Claude Shannons Informationstheorie bietet uns womöglich die einfachste und radikalste Antwort: Sie würde mit dem ersten Bit beginnen. Dieses erste Informationsfragment in Shannons Theorie ist tatsächlich eine abstrakte Einheit, von den Bits sehr weit entfernt, die wir heutzutage handhaben, sei es die Bitrate eines Streamings oder die 64 Bits des neuen Smartphones. Die Substanz jedoch bleibt dieselbe, und sobald die Abstraktion angenommen ist, haben wir uns unser Objekt in vielen winzigen pulverisierten, ordentlich aneinandergereihten Paketen vorzustellen – und uns selbst als Zeugen dieser endlosen Prozession. Zwischen den einzelnen Bits dieser paradoxen Lektüre stellt sich die Frage: Was bringt das nächste Bit? Beunruhigende Neuheiten? Bloße Redundanz? Wie viel Information ist im eingehenden Bit enthalten? Die Informationstheorie modelliert diesen Prozess mit mathematischer Eleganz und greift auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung zurück, um die Information des nächsten Bits zu quantifizieren: Diese ist schlicht und ergreifend umgekehrt proportional zu ihrer Wahrscheinlichkeit. Eine voraussehbare oder redundante Nachricht, die mit hoher Wahrscheinlichkeit gesendet wird, enthält wenig Information, wohingegen eine unerwartete und daher unwahrscheinliche Nachricht sehr viele Information enthält. Wenn sich unsere künstliche Intelligenz nun der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des nächsten Bit hingibt, wird sie sich der Frage statistisch und auf eine sehr viel schnellere Art und Weise annehmen können als es unsere menschlichen Fähigkeiten gestatten. Kehren wir also zurück zu dem Moment, in dem wir begonnen haben, unser kulturelles Artefakt, das unbekannte Objekt, zu lesen. Wir blättern um oder drücken auf Play, und die ersten Eindrücke beginnen sich herauszubilden, ebenso wie die ersten Annahmen, die sich, dem Rhythmus unseres Denkens folgend, nach und nach verketten, überlagern und verwirren, unter dem Einfluss unserer Emotionen, moduliert von all unseren physischen Empfindungen. Dabei beschäftigt sich jeder von uns Lesern, sei er menschlich, künstlich, real oder imaginär, im Grunde mit ein und derselben Tätigkeit: Vermutungen über das nächste Bit anzustellen.
In dieser Phase der Spannung gegenüber dem Unbekannten wird der Augenblick, in dem wir uns des neuen Informationsbits annehmen, jedoch nicht zum Schauplatz eines reinen Rechenprozesses, sondern einer Art Dialog, ja eines Tanzes, eines engen Anschmiegens, wenn man so will, an den Körper des eingehenden Bits. Eine solche Art der Interaktion mit einem Text liegt etwa in den interpretativen »Spannungsmodellen« vor, die den Kern der Arbeit des Musikwissenschaftlers Leonard Meyer bilden. Die Besonderheit dieses Ansatzes besteht darin, dass er von einer semiotischen, im Wesentlichen auf die Rezeptionsseite konzentrierten Semiotik ausgeht. Die Interpretation von Texten wird zu einem Prozess der Erwartungsbildung: Wenn wir uns in das Hören oder Lesen des unbekannten Textes vertiefen, stellen wir Annahmen über das an, was wir erleben, und versuchen, die Fortsetzung zu antizipieren, um besser verstehen zu können, was vor sich geht. Wir können uns fragen: Ist das Bild, das sich in der Melodie herauskristallisiert, eine Figur vom Typ A oder eher vom Typ B? Sieht dieses rhythmische Muster eine Auflösung nach Modell X oder Modell Y vor? Die Komponisten selbst sind sich solcher Mechanismen durchaus bewusst und gestalten ihre Texte, indem sie mit den Spannungen und mit der Erwartungshaltung des Lesers spielen. Meyer schlägt eine Theorie der semantischen Funktionsweise von Musik vor, in der genau solche Bezüge die Bedeutung herstellen. Strukturen, die bestimmte Erwartungshaltungen erzeugen, erzeugen eine Spannung hin zu einer kongruenten Auflösung, die letztlich realisiert oder widerlegt werden kann. Man kann also behaupten, dass eine Sequenz von Klängen ihre hypothetische Fortsetzung bedeutet und dass unser Engagement als Zuhörer durch die kluge Anordnung von anspielungsreichen Spuren und wirksamen Auflösungen bestimmt wird.
Der Genuss eines unbekannten Textes ist im Grunde ein aktiver Ermittlungsvorgang. Als Leser warten wir ständig auf Hinweise, die uns gestatten, Kurskorrekturen vorzunehmen. Es handelt sich um eine kreative Tätigkeit, um den Aufbau von Bedeutung, wobei man, einem Modell folgend, das sich fortlaufend im Bau befindet, stets zu entscheiden hat, welche Verbindungen vorzuziehen oder welche Löcher zu stopfen sind. Diese Aktivität ist eng mit einem »Parcours der Gefühle« verbunden, einer emotionalen Regung, die auch den Moment der Euphorie vorsieht, in dem die eingehenden Hinweise eine Form zu erkennen geben: Wir beginnen, die Daten zusammenzuführen und erkennen, dass es eine darunterliegende Spur gibt, womöglich sogar eine Struktur, die allmählich hervortritt, zwischen theatralischen Wendungen und zweideutigen Enthüllungen. Selbst fremde oder irreführende Elemente sind Teil des Spiels, in das der Text uns hineinzieht. Ihre offensichtliche Unwahrscheinlichkeit (die, wie wir gesehen haben, theoretisch einen höheren Informationsgehalt erwarten lässt) kann mit zusätzlichen Hinweisen plausibler gemacht oder aber in ihrer Mehrdeutigkeit belassen werden, wenn nicht sogar auf reines Zufallsspiel zurückgeführt werden. Die bedrohlichste Seite des Unbekannten, der Fremde, das Nonkonforme, zeigt sich als Gabelung: ein Begriff, der sich auf eine Form bezieht, die noch nicht aktiviert ist. Vielleicht wird dies später geschehen, vielleicht auch nie, wir werden es im Laufe der Lektüre entdecken. Über seine gesamte Dauer zwingt der Text uns dazu, auf Sicht zu navigieren, bis zum Schluss, nach dem wir schließlich vorübergehend in ruhigen Gewässern ankern können.
Der musikalische Diskurs ist fest in der Zeit verankert. Musik entfaltet sich in der Zeit; dort existiert sie konkret. Und da die Zukunft womöglich die unausweichlichste Form des Unbekannten ist, können wir aus dem musikalischen Beispiel weitere Schlüsse ziehen, die von Belang sind. Wir sind nicht in der Lage, ein Musikstück einer sofortigen Analyse zu unterziehen, wie es etwa der Spotify-Algorithmus tut, der eine Musikdatei in einer unbestimmten Gegenwart liest und klassifiziert. Um in den Genuss eines musikalischen Werks zu kommen, müssen wir seine Dauer durchschreiten und den von dem Stück vorgegebenen Parcours der Gefühle gehen. Ohne an dessen Schluss gelangt zu sein, kann man wohl kaum behaupten, ein Musikstück wirklich gehört zu haben. Dies nicht nur, weil es ein teilweises Zuhören wäre, sondern auch weil der Moment des Abschlusses das Werk in eine neue Dimension projiziert, in der sich die Richtung umkehrt. Wenn unser Hören anfänglich, in strikter Bindung an einen Zeitverlauf, der Entwicklung des Diskurses folgte, so beginnt unser analytisches Denken, sobald das Ende erreicht ist, Hypothesen abzuschließen und sich darauf vorzubereiten, das soeben Gehörte Revue passieren zu lassen. »Das ist es also, worauf er in dieser rätselhaften Einleitung anspielte!«, sagt man sich, da nun die Entwicklung bekannt ist, die das Material, das wir gehört haben, durchlaufen hat. Die Interpretation ändert sich also, nachdem der Text sich in vollem Umfang offenbart hat. Das Stück verlässt den Zeitlauf und tritt in einen semiotischen Schwebezustand ein, in dem der Sinn gegen den Strom zurückverfolgt werden kann und die Teile schließlich in Bezug zueinander gesetzt werden können, als betrachtete man ein Bild. Oder fast: Der Charme der Musik liegt in ihrer Ungreifbarkeit, und es gibt keinen semiotischen Schwebezustand, der das emotionale Crescendo des tatsächlichen Zuhörens ersetzen kann.
Ist es also möglich, ein emotionales Crescendo zu analysieren, indem man es in Bits zerlegt, ihn umkehrt oder rückwärts verfolgt? Henri Bergson legt nahe, dass eine solche Operation durchgeführt werden kann; nur sollten wir dabei das zweite Prinzip der Thermodynamik in Erinnerung behalten. Mit anderen Worten, es gibt keine wirklich reversiblen Transformationen, und deshalb werden wir nie den gleichen Vorgang zwei Mal vor uns haben.
Ähnlich hierzu lässt sich das Leben des Bewusstseins laut Bergson nicht analysieren, indem man es in »psychische Atome« zerlegt, wenn man beispielsweise versucht, logische Vorgänge analytisch zu isolieren. Das Leben des Bewusstseins kann nur Gegenstand der Intuition sein: »Intuition heißt jene Art von intellektueller Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt.« (Bergson 1903)
Bergsons Methode gilt auch für den Begriff der Zeit. Während von Aristoteles an die Zeit als räumliche Abfolge verschiedener Augenblicke verstanden wird, als Summe einer qualitativ homogenen Menge definierter Größen, erscheint Bergsons intuitive Zeit dem Bewusstsein als Kontinuum, dem eine Mischung verschiedener qualitativer Elemente innewohnt. Für das Bewusstsein ist Zeit kein quantitatives Zahlenverhältnis, in dem die qualitative Natur jedes Augenblicks irrelevant ist, wie es in den Gleichungen der Mechanik der Fall ist. Es gibt eine ganze Ordnung intuitiver Realität, die dem mathematischen Bewusstsein entgeht, da sie in der Zeit andauert.
Kehren wir also zum Moment der Spannung angesichts des Unbekannten zurück, zum Warten auf das nächste Bit. Die Relevanz des qualitativen Ansatzes schiebt sich in den Vordergrund, wenn Bergson sich auf die Wahrnehmung der Anmut in der Körperbewegung zuwendet. Während die Anmut ursprünglich als Wahrnehmung einer gewissen Leichtigkeit und Spontaneität in der Bewegung definiert wird, nimmt der Begriff eine andere Tiefe an, wenn man feststellt, dass die anmutigsten Bewegungen diejenigen sind, die die Anwesenheit eines anderen voraussetzen, Bewegungen, die es gestatten, aus den gegenwärtigen Verhältnissen auf die künftigen zu schließen. Wenn hingegen abrupte Bewegungen der Anmut entbehren, so liegt das daran, dass jede von ihnen eigenständig erscheint und nicht diejenigen ankündigt, die folgen werden. Die typischerweise geschwungene Kurve der Anmut ändert ihre Richtung, doch diese neue Richtung lässt sich bereits aus der vorherigen Bewegung erschließen.
Die Wahrnehmung einer Leichtigkeit in der Bewegung fließt somit hier in eins zusammen mit der Lust daran, den Zeitablauf irgendwie zu hemmen und die Zukunft schon im Gegenwärtigen in der Hand zu halten. Ein drittes Element stellt sich dann ein, wenn die anmutigen Bewegungen einem Rhythmus gehorchen und von Musik begleitet werden. In diesem Fall nämlich lassen uns Rhythmus und Takt, indem sie uns die Bewegungen des Künstlers noch sicherer vorauszusehen gestatten, daran glauben, daß wir selbst sie beherrschen. Da wir beinahe die Haltung erraten, die er einnehmen wird, scheint es, als ob er, wenn er sie wirklich einnimmt, uns gehorche; die Regelmäßigkeit des Rhythmus stellt zwischen uns und ihm eine Art Verbindung. […] Es geht somit in das Gefühl von Anmut eine Art physische Sympathie ein. (Bergson 1889)
In Bergsons Philosophie, im Kern des Denkens über »Zustände des Bewusstseins« geht diese physische Sympathie über die Metapher hinaus: In Gegenwart eines oder mehrerer von der Intelligenz hervorgebrachten Vergnügen, so Bergson, wende sich unser Körper spontan wie durch eine reflektierte Handlung einem davon zu. Bei dem Versuch, einen Sänger, der einen hohen Ton singe, sorgfältig zu analysieren, verfalle man letztlich mehr oder weniger unwillkürlich auf die Vorstellung der Spannung der Kehlkopfmuskulatur, der es bedarf, um die Note wiederzugeben. In einem solchen Fall ist es also der Körper, der unsere interpretativen Spannungen lenkt. Und wenn dieser Mechanismus funktioniert, so scheint uns die neue Information »geradezu zu gehorchen«.
In den 1960er Jahren beobachtete Alfred Schutz, dass die Beziehung zwischen dem Komponisten und dem Zuhörer eines Musikstücks dadurch hergestellt wird, dass Letzterer an den Erfahrungen seines Schöpfers teilhat und diese in gewissem Maße nachkreiert, in einem Vorgang, der Bergsons »Sympathie« ähnelt. Der Fluss der durch die Zeit fließenden Klänge stellt ein Ordnungsprinzip dar, das sowohl für den Komponisten als auch für den Zuhörer bedeutsam ist, zumal insofern als es eine Wechselwirkung von Erinnerungen und Antizipationen hervorruft, die mit den nachfolgenden Elementen in Verbindung treten. Für Schutz beschränkt sich diese Art der Beziehung nicht nur auf die psychische Dimension. Auf der einen Seite steht die innere Zeit, eine Dimension, in der jeder Interpret Schritt für Schritt den musikalischen Gedanken des Komponisten nachvollzieht und durch die er auch mit dem Zuhörer verbunden ist. Andererseits ist das gemeinsame Musizieren ein Ereignis der äußeren Zeit, das auch eine persönliche Beziehung voraussetzt, also eine Gemeinsamkeit des Raumes, und es ist diese Dimension, die die inneren Zeitflüsse vereinheitlicht und ihre Synchronisation in der »lebendigen« Gegenwart gewährleistet. Das Verhältnis entsteht durch den gegenseitigen Austausch des Erfahrungsflusses des Anderen, durch das gemeinsame Leben in der Gegenwart und das Erleben dieser Gemeinschaft als ein »Wir«. Erst in dieser Erfahrung entfaltet das Verhalten des Anderen Bedeutung für einen Zuhörer »auf gleicher Wellenlänge«.
Wie Bergson es schon wendete: Um ein Gefühl angemessen zu bewerten, ist es notwendig, alle Phasen des Gefühls selbst durchlaufen und die gleiche Dauer erlebt zu haben. Dieses Phänomen lässt sich anhand eines Zitats veranschaulichen, das gemeinhin Johannes Brahms zugeschrieben wird: »Wenn ich eine schöne Aufführung des Don Giovanni hören möchte, zünde ich mir eine gute Zigarre an und strecke mich auf meinem Sofa aus.« Im Wesentlichen ist davon auszugehen, dass auch Brahms, wenn er sich nun darauf einstellt, dem Don Giovanni geistig zu folgen, es sich bequem macht und sich eine gute Zigarre gönnt, das gesamte Stück, so gut er es bereits kennen mag (so gut, dass er seine eigene Interpretation für die gelungenste hält), noch einmal über seine Gesamtdauer durchgehen wird. Aber womöglich ist das noch nicht alles: Von seinem bequemen Sofa aus muss Brahms sich auch ein »uns« vorstellen, er muss die intersubjektive Verbindung zu seinen Orchestermusikern rekonstruieren, womöglich auch mit einem Publikum, das ihm aufmerksam folgt.
Der unbekannte Text ist also nie wirklich fremd, unsere Tätigkeit als Interpreten führt uns vom ersten Moment an zu einer Interaktion, einem engen Tanz, der uns einander näherbringt. Und so wird die im nächsten Bit enthaltene »Informationsmenge« Teil eines Spiels der Kontraste, der Spannungen, die den Tanz bestimmen. Der Wechsel von Hinweisen, Erwartungen und Offenbarungen führt uns zu Momenten völliger Sympathie, in denen wir uns so fest im Rhythmus des Textes befinden, dass wir jede Bewegung voraussehen können, als wäre es unsere eigene. Der unbekannte Text ist also ein Versprechen, ein Versprechen eines Weges, der tendenziell mit unserem Leben zusammenfällt.