Christian Marazzi: Forschung und Finanzialisierung
Forschung und Finanzialisierung
(p. 75 – 102)

Wissensarbeit im kognitiven Kapitalismus

Christian Marazzi

Forschung und Finanzialisierung

Traduit par Thomas Atzert

in: Sozialismus des Kapitals, p. 75 – 102

Donald J. Johnston, seinerzeit Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), vertrat in einem Artikel, der im Frühjahr 2004 die zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Ergebnisse der PISA-Bildungsstudie von 2003 vorwegnahm, die Auffassung, angesichts des internationalen Wettbewerbs um Arbeitsplätze, der Herausforderungen der neuen Technologien und der gestiegenen Anforderungen der Wissensökonomie bräuchten die Schul- und Bildungssysteme bisweilen therapeutische Schocks, um sich weiterzuentwickeln.

»Bildungssysteme sind hoch komplex. Um erfolgreich sein zu können, müssen sie rasch und angemessen auf sich verändernde ökonomische und soziale Rahmenbedingungen reagieren. Paradoxerweise sind Informationen über neue Methoden und Ansätze, die den Bildungsträgern helfen können, ihre Lehrpläne anzupassen sowie ihre Lernerfolge zu verbessern, häufig kaum verfügbar und noch schwieriger umzusetzen. Manchmal bedarf es einer Art Elektroschocktherapie, damit Reformen überhaupt in Erwägung gezogen werden.«1

Neben den wiederkehrenden Problemen, mit denen Bildungseinrichtungen in den vergangenen Jahren konfrontiert gewesen seien – Johnston nennt die Sicherstellung gleicher Bildungschancen und -qualität, den Mangel an Lehrkräften, die Anstrengungen, Erwachsene zu lebenslangem Lernen zu ermutigen sowie die ethnische und kulturelle Vielfalt der Schüler und Studenten –, sei ein Haupthindernis eine nicht hinreichende Finanzierung. Die OECD-Länder müssten, so Johnston, »Mechanismen der Kofinanzierung entwickeln, um staatliche Stellen, Unternehmen und Individuen mit ihrem Beitrag einzubinden«.

Trotz aller guten pädagogisch-reformerischen Absichten bleibt für die OECD-Länder also die Verbindung zwischen Bildung, Forschung und Finanzierung eine entscheidende Schwachstelle. Betrachtet man etwa die sogenannte Bologna-Reform, eine »Revolution von oben«, fällt sofort auf, dass sie im Großen und Ganzen darauf zielt, die Qualität der Hochschulausbildung im Grundlagenstudium abzusenken (indem man den alten Magister- und Diplomabschluss durch den Bachelor ersetzt) und eine elitäre Spezialisierung zu fördern (durch gebührenpflichtige Masterstudiengänge). »Für die Mehrheit der Studierenden – in England verlassen 80 Prozent die Universität nach dem Bachelor – bedeutet das eine brutale Herabstufung ihrer Hochschulabschlüsse.«2 Die Reformprogramme für die Hochschulen enthalten zwar auch Pläne für Studiendarlehen der öffentlichen Hand, wie sie in den USA bestehen, doch »deren tatsächliche Wirksamkeit darf bezweifelt werden, bedenkt man etwa, dass viele junge Amerikaner während des Irakkriegs in die US-Armee eingetreten sind, einzig um ihre Studiendarlehen abzahlen zu können.«3

So gesehen steht die Erklärung zum »Europäischen Hochschulraum«, die sogenannte Bologna-Erklärung, für eine solche Schocktherapie, wie sie der OECD-Generalsekretär anspricht.4 Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um eine Anwendung von Prinzipien, wie sie heute die flexibilisierte postfordistische Produktion kennzeichnen, auf Bildungsprozesse, einschließlich der Privatisierung der Bildungskosten (durch Erhöhung der Studiengebühren und durch zusätzliche Gebühren für spezifische Studiengänge) und der Deregulierung der Hochschulen nach den Bedürfnissen der Privatwirtschaft (durch Konkurrenz zwischen universitären Clustern der Forschung und Lehre). Seither reimt sich Universität vor allem auf Prekarität. Die ökonomische Kolonialisierung der Bildungswelt hat indes international eine Reihe von Kämpfen für das Recht auf ein Studium ausgelöst, Kämpfe, die sich gegen die Flexibilisierung und Prekarisierung der Studien- und Ausbildungsgänge ebenso richten wie gegen die Kürzung der öffentlichen Finanzierung von Forschungsprojekten sowie gegen Ansätze, Wissensproduktion und Innovation betriebswirtschaftlichen Regeln zu unterwerfen. In Frankreich haben mehr als 2000 Leiter von Forschungslaboren und wissenschaftlichen Arbeitsgruppen ihre administrativen Aufgaben aus Protest gegen fehlende Mittel niedergelegt; sie wenden sich damit auch gegen die Streichung von 550 Stellen und fordern neue Impulse im Bereich der Forschung. Die Frage lautet daher, inwieweit die Verflechtung von Bildung, Forschung und Finanzialisierung im Postfordismus ein Terrain der Auseinandersetzung bieten kann, auf Augenhöhe mit den gegenwärtigen Veränderungen der Produktionsweise im globalen Maßstab.

Wissenskapitalismus und Finanzialisierung

Das Wissen, das Innovation im Produktionsprozess erlaubt, fällt nicht vom Himmel, und der »technische Fortschritt«, der dazu beiträgt, die Produktivität der Arbeit zu erhöhen und so den Massenkonsum der Güter und Dienstleistungen erst zu ermöglichen, existiert nicht außerhalb des Zusammenhangs, in dem ökonomisches Wachstum entsteht. Innovatives Wissen ist etwas, das produziert wird und, genau aus diesem Grund, entgolten werden muss. So gesehen wäre der technische Fortschritt, den die Wissensproduktion hervorbringt, als ein Kostenfaktor anzusehen. Theoretisch ausformuliert wurde eine solche Perspektive von mikroökonomischen Studien, die nach Wachstumsfaktoren fragten. Tatsächlich haben die Theorien des endogenen Wachstums dazu beigetragen, sich von der neoklassischen Vorstellung zu befreien, wonach innovative Ideen ungebunden, außerhalb des Raumes menschlicher Tätigkeit existierten, ganz so, als seien sie Robinson von seinem Papagei eingeflüstert worden, und noch dazu kostenlos.5

Damit stellt sich das Problem der Beziehung zwischen der Innovation im Produktionsprozess und der Transformation des Finanzsystems. Michel Aglietta zufolge ergibt sich die Verbindung zwischen Wirtschaftswachstum und Finanzsystem aus der Finanzierung technischer Innovation. Wachstum sei entsprechend abhängig von Bedingungen, unter denen sich ein Gleichgewicht von Spar- und Investitionsquote herstellt, insofern diese die Akkumulation der Faktoren beeinflussen, die den Gang des technischen Fortschritts determinieren.6

Wenn die Innovation endogen produziert wird, von wem und wie werden dann die Kosten getragen? Insofern Innovation naturgemäß unsicher,7 ihr wirtschaftlicher Ertrag nämlich kaum vorhersehbar ist – wie lässt sich da das Interesse potenzieller Investoren wecken? Da zudem das innovative Wissen ein Gemeingut ist, erst recht in einer in hohem Maße auf Wissen und Kommunikation beruhenden Ökonomie,8 in der sich die informelle Verbreitung von Innovationen der Möglichkeit widersetzt, sie als handelbares Eigentum zu monopolisieren,9 muss man die Frage stellen, auf welchen Mechanismen eine private und/oder öffentliche Aneignung des Wissens – aber auch seine Entwendung10 – beruht.

Die Antwort auf diese Fragen verweist zunächst einmal auf die Art und Weise der Allokation von Ersparnis, als Hauptquelle der Finanzierung wirtschaftlichen Wachstums. Während der 1980er Jahre haben die liberalisierten Finanzmärkte dazu eingeladen, in großem Umfang Rücklagen zu verschieben und sie in Wertpapiere zu investieren, die, gerade wo es sich um relativ rigide Vermögensformen handelte, hohe Erträge versprachen. Der Immobilienmarkt bietet das bekannteste Beispiel dafür, wie durch veränderte Finanzprodukte, die dem Muster der gewandelten inneren Struktur und sozialen Zusammensetzung der Ersparnis folgten, die Realisierung müheloser Gewinne begünstigt wurde.11 Die liberalisierten Finanzmärkte haben in der Folge dazu beigetragen, die Restrukturierung von Unternehmen und Betrieben zu beschleunigen und das Prinzip der sogenannten schlanken Produktion durchzusetzen, das darauf zielt, angesichts steigender Zinssätze die Produktionskosten zu reduzieren. Gleichzeitig verloren die Banken an Bedeutung (Disintermediation), denn je einfacher es wurde, auf den Finanzmärkten Gewinne zu erzielen, desto mehr Rücklagen flossen aus dem Bankensystem ab, um in börsennotierten Wertpapieren, beweglichen Sachgütern also, angelegt zu werden, desto stärker aber waren die Banken zugleich gezwungen, durch hohe Zinsen zu versuchen, Einlagen zu halten.

Auf der einen Seite reduzierten die Restrukturierungen in einem immer härter werdenden globalen Wettbewerb Kosten und begünstigten so einen regelrechten Preisverfall, führten mithin zu einer Disinflation; auf der anderen Seite haben die infolge der Konkurrenz zwischen Finanzmärkten und Bankensystem steigenden realen Zinsen die Standortrenditen und mühelosen Gewinne zerstört, wie sie der Immobiliensektor bot, sodass die Rücklagen sich in verstärktem Maße Aktien zuwandten.12 In jenen Jahren versetzten die nachlassende Konjunktur, die Restrukturierung der Unternehmen, die Engpässe der öffentlichen Haushalte und die Engpässe der Banken den Budgets der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (kurz F&E) in den Unternehmen schwere Schläge. Das Ende des Fordismus bedeutet in diesem Sinne auch das Ende der zentralen Stellung einer im Wesentlichen auf Mittel aus der Rüstungs-, Luftfahrt-, Elektronik- und Chemieindustrie gestützten F&E-Finanzierung.13

Die Disinflation trug dazu bei, Investitionen in Wertpapiere »alter« Industrien, die nicht unmittelbar vom Wirtschaftswachstum profitieren konnten, stark zu reduzieren, wohingegen Papiere aus aufstrebenden Branchen gefragt waren, das heißt insbesondere aus dem Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Entstehung der New Economy im Verlauf der 1990er Jahre erklärt sich genau aus diesem Zusammenkommen von Finanzmitteln und aufstrebenden Technologieunternehmen, die als Dotcoms bekannt werden sollten.

Die digitale Revolution, der Anbruch des »Informationszeitalters«, die mit dem Internet sich eröffnenden Möglichkeiten und nicht zuletzt die Spekulationsblase im Technologiesektor haben, von den USA ausgehend, die Struktur innovativer Prozesse vollkommen umgestülpt. »Es ist eine neue Version des amerikanischen Traums, der Vorstellung von der new frontier, Konglomerate von Unternehmen entstehen, aus denen Innovation hervorsprudelt. Zwei Personen mit einer Idee und einer Garage können, berührt sie nur der Zauberstab des Risikokapitals, zu einem neuen, weltweit operierenden Konzern werden. Microsoft, Amazon oder Cisco nähren diese Legende. Der Glaube daran bringt die amerikanischen institutionellen Anleger dazu, immer weiter Geld in Innovationsfonds anzulegen.«14

Die Veränderungen jener Jahre, die Transformation der Finanzierung von Innovation, der Boom des »Risikokapitalismus« in den USA und seine weltweite Ausstrahlung erklären sich aus der wachsenden Bedeutung der lebendigen Wissensarbeit, während gleichzeitig das im fordistischen Maschinensystem verkörperte technologische Wissen an Bedeutung verliert. Die »informatische Revolution« trägt tatsächlich dazu bei, ungeheuren Kapitalsummen freie Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen, an Stelle der einstigen langfristigen Investitionen in feste Produktionsanlagen. Zugleich rückt mit der Restrukturierung der Unternehmen, für die der Toyotismus und die italienischen industriellen Cluster das Modell abgeben, das kontinuierliche Streben nach Innovation in den Mittelpunkt des kommunikativen Handelns und der Kooperation der Arbeitskraft. Die Wissenschaft verlässt sozusagen das Labor, um sich direkt in den Tätigkeiten des Lebens wiederzufinden, das im fixen Kapital des Maschinensystems verkörperte Wissen verwandelt sich und findet sich Körper der Arbeitskraft selbst wieder. Diese »Transposition« ermöglicht es, die Marx’sche Wendung vom general intellect aufzunehmen, diesen Ausdruck heute aber nicht mehr auf das in den Produktivkräften des Kapitals akkumulierte, vergegenständlichte Wissen zu beziehen, wie Marx es in seiner Prognose der historischen Entwicklung des Industriekapitalismus tat, in der er den general intellect sich herausbilden sah, sondern auf den Körper der lebendigen Arbeit.

Die Innovation wird »unternehmerisiert«. Die Start-ups, die sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ausbreiteten, eine Entwicklung, die in der Börsenkrise von 2000 kulminierte, repräsentieren das wirklich Neue in der Beziehung von Forschung und Finanzierung, stehen zugleich aber auch für den Widerspruch von Wissens- und Informationsökonomie. Der general intellect findet in diesem Übergang gewissermaßen seine Börsennotierung, einem Übergang, der die fruchtbaren Ideen auf das kapitalisierte Terrain der Produktion von Waren und Dienstleistungen transponiert.

In den USA spielt sich die Verwandlung von Ideen in Unternehmen häufig auf einem Universitätscampus ab, gefördert durch Gruppen von Investoren, sogenannten business angels,15 die – bisweilen assoziiert – die angehenden Unternehmer mit Startkapital versorgen. Nach diesem ersten Schritt treten die kollektiven Investmentfonds auf den Plan, die durch Kapitalbeteiligungen noch vor der Börseneinführung Mittel zur Verfügung stellen. Der Börsengang der Risikowerte (an der Technologiebörse Nasdaq) zieht Pensionsfonds und weitere Investmentfonds an und erlaubt es dem Risikokapital, sich aus dem erfolgreich gestarteten Unternehmen zurückzuziehen (exit) und dabei überdurchschnittlich hohe Renditen zu erzielen. Diese »Innovationsrenditen« kompensieren zum einen die erlittenen Verluste aus gescheiterten Start-ups, zum anderen stellen sie Mittel für die Anschubfinanzierung neuer Unternehmen zur Verfügung.

Der Übergang vom Modell der business angels, in dem während der ersten zwölf bis achtzehn Monate, der »Zeit des Reifens« also, vor allem persönliche Beziehungen zählen, zur Logik der Finanzierungsgesellschaften – häufig Tochterunternehmen von Investmentbanken, sogenannte business incubators –, die kurzfristig kalkulieren und nach Bilanzen, Rechtsformen und Marktchancen fragen, wird für die Start-up-Unternehmen gleichermaßen zum Schlüssel ihres Erfolges wie auch zu einer Ursache ihrer Krise. Die Finanzialisierung gibt der lebendigen immateriellen Arbeit die Form eines Unternehmens, doch geschieht diese Metamorphose unter der Voraussetzung, dass ein Wertzuwachs produziert wird (gleichsam eine Risikoprämie); ohne eine solche Erwartung würde der gesamte Prozess überhaupt nicht in Gang kommen. Die Risikoprämie wird zum Erkennungszeichen des Börsengangs von Start-up-Unternehmen, einer »Höherbewertung« des Geschäftswertes (auch goodwill genannt)16 vergleichbar, die sich aus der Differenz des Marktwerts zum Buchwert von fusionierten Unternehmen oder Unternehmensteilen ergibt. Die Risikoprämie und die Höherbewertung in diesem Fall sind der Preis des angeeigneten Wissens oder entsprechend des Überschusses, der auf dem general intellect beruht. Hier liegt der besondere Widerspruch des Wissenskapitalismus. In beiden Fällen geht es um das bilanzmäßige Erfassen »immaterieller Vermögensgegenstände«, wie zur Ware gewordene Wissensformen sie darstellen, Aktiva also, die unabdingbar sind, um in Zeiten, da Investorenentscheidungen auf den lokalen und globalen Finanzmärkten sich an solchen Wettbewerbsparametern ausrichten, weiteres Kapital anzuziehen.

Zweifellos zeichnen sich die Finanzmärkte durch eine gewisse Selbstbezüglichkeit aus, insofern Börsenwerte dazu neigen, sich vom tatsächlichen wirtschaftlichen Wert der notierten Unternehmen »abzulösen«. Ein Grund hierfür sind bestimmte nachahmende Verhaltensweisen, wie sie Investoren typischerweise an den Tag legen, sowie bestimmte – bereits von John Maynard Keynes beschriebene – Konventionen, die zu den Voraussetzungen für das Funktionieren des Börsengeschäfts gehören.17 Doch wäre es ein Fehler, hier nur die selbstbezügliche Dynamik zu sehen, die zyklisch Spekulationsblasen hervorbringt und platzen lässt, und dabei blind zu sein für den Widerspruch, der der Verwandlung der immateriellen Arbeit in eine Ware innewohnt.

Die innovative Wissensarbeit ist ihrer eigenen Logik nach open source, kooperativ, relational, kommunikativ und in zunehmendem Maße global.18 Um gesteuert und zur Ware werden zu können, um also im Sinne unternehmerischen Handelns organisierbar zu sein, ist es zunächst notwendig, sie zu hierarchisieren und zu finanzialisieren; so formatiert wird das diffuse Wissen enteignet und an den Vorgaben eines Geschäftsplans ausgerichtet. Doch vollzieht sich diese Operation nicht schmerzlos, sie fordert ihren Tribut: Bei der Gründung von Start-up-Unternehmen kommt es häufig zu »wahnsinnigen« Überbewertungen, die eine »normale« Marktentwicklung hemmen, insofern sie Volatilitäten und Instabilitäten verstärken, während im Falle von Unternehmensübernahmen und Fusionen (die häufig auch Übernahmen sind) Maßnahmen zur Rationalisierung und Flexibilisierung der Arbeit einsetzen, gewissermaßen als »Bilanzausgleich« für die übernommenen immateriellen Aktiva.

Was nun die Kämpfe von Forschern und jene von flexiblen oder atypisch Beschäftigten eint, ist genau der Widerspruch, den die Immaterialisierung der Arbeit birgt: Die immaterielle Arbeit im Wissenskapitalismus findet körperlich wie geistig einen konkreten Ausdruck einzig auf dem Terrain der Finanzialisierung. Die Kämpfe der prekär Beschäftigten und die der Forscher spiegeln diesen Widerspruch eines Kapitalismus wider, der, um zu funktionieren, Wissen enteignet, während zugleich ständig ein Überschuss an Wissen und Subjektivität produziert wird, der »befreit«, während er eine (Um-)Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ausschließt.

Kapitalisierung und Sozialisierung 19

Die Krise und Transformation der New Economy beginnt im März 2000. Bevor ich mich der nachfolgenden Entwicklung zuwende, bevor ich also die neue Gestalt untersuche, die das Verhältnis von Finanzialisierung und Wissensproduktion/Innovation annimmt, scheinen mir ein paar Bemerkungen zum Finanzkapital als Ausdruck des postfordistischen Wissenskapitalismus angebracht.

Die beschriebene Finanzialisierung der Ökonomie sollte zum Ersten nicht mit fordistischem Blick als Perversion betrachtet werden, als ein Phänomen, bei dem es lediglich um (moralisch verwerfliche) Spekulation geht, noch als einfache Verlängerung der klassischen Form des Finanzkapitals (wie sie etwa Rudolf Hilferding beschrieb), sondern als etwas tatsächlich Neues im inneren Funktionszusammenhang des Kapitalismus, das auf seine Art den wesentlichen Merkmalen dieser postfordistischen Ära – Verflüssigung und Unsicherheit – Ausdruck verleiht. Die Finanzmärkte sind gleichzeitig Gegensatz wie Pendant der neuen Bedingungen, unter denen die Produktivkraft der Arbeit sich entfaltet und Innovation hervorgebracht wird.

Zum Zweiten ist das neue Finanzkapital dadurch charakterisiert, dass es die Gesamtheit der Zahlungsmittelfunktionen vereint.20 Dadurch verändern sich Rolle und Bedeutung des Bankensystems, aber vor allem wird dadurch zwischen allen Formen und Verwendungsweisen von Zahlungsmitteln ein direkter Zusammenhang hergestellt und autorisiert. Jede Geldsumme kann in Gestalt einer Investition in Aktien oder Obligationen auftreten. Eine solche Situation verschiebt die Grenzen zwischen Arbeitsentgelt und Profit und folglich auch eine einfache, mechanische Abgrenzung gesellschaftlicher Klassen, nämlich eine Abgrenzung aufgrund der Art und Form des Anteils am geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum. Eine direkte Partizipation von lohnabhängig Beschäftigten an Investitionen auf Aktien- und Wertpapiermärkten ist kein randständiges Phänomen mehr: Es gehört vielmehr zu den konstitutiven Merkmalen des neuen Lohnverhältnisses. Die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Lohn (oder Soziallohn) ist im Aussterben begriffen. Ein Indikator dafür ist die Ausbreitung von kapitalgedeckten Altersversorgungssystemen in praktisch allen Ländern (um einen »zweiten Pfeiler« oder eine Zusatzrente aufzubauen). Der Soziallohn beziehungsweise die zurückbehaltenen Lohnbestandteile sind nunmehr weltweit im Umlauf, vermittelt durch Investment- und Pensionsfonds. Das Konzept des »Soziallohns« selbst wird inadäquat. Die Debatte um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme dreht sich um den Gegensatz zwischen der Verteilung nach einem Solidarsystem und der nach einem individuellen, kapitalgedeckten Versicherungssystem. Doch im Kern geht es um den Gegensatz zwischen einem nationalstaatlich organisierten Sozialsystem und einem Bruchteil des weltweit zirkulierenden investierten Kapitals. »Betrachtet man,« schreibt Philippe Zarifian, »die tatsächliche Bewegung der Pensions- und Investmentfonds – ohne moralisierende Vorbehalte –, so sieht man, dass sie einem antizipierenden Kalkül folgen, in das vorrangig Bewertungen der ›produktiven‹ Strategien und der Wettbewerbssituation großer Konzerne sowie Einschätzungen zur Qualität des Managements an ihrer Spitze eingehen. Was die Investitionen der Fonds anbelangt, so gibt es kein ›Loslösen‹ von den Unternehmensstrategien, sondern sie rekurrieren auf deren Ertragsaussichten, sind deren Ausdruck und Übersetzung. Dieses Übersetzen/Rekurrieren zeigt sich auch noch in dem Druck, kurzfristig hohe Renditeerwartungen zu erfüllen, wie es Fondsmanager in harten Verhandlungen von den Führungsspitzen global agierender Unternehmen verlangen. Es zeigen sich Unterschiede, aber kein Auseinanderstreben. Das Investmentkapital führt gegenüber den Strategien des Industriekapitals das Ideal der ›Verflüssigung‹ und der risikoreichen Antizipation ein, was auf produktive Investitionen Druck ausübt, sich aber nicht von ihnen ablöst.«21

Insofern also gleichzeitig Unterschiede und Verbindungen zwischen Fondsmanagern von Pensions- und Investmentfonds einerseits sowie den Führungsspitzen großer Industriekonzerne andererseits bestehen – wobei Erstere eindeutig dominieren –, ist es möglich, von der Herausbildung einer neuen Kategorie von Kapitalisten zu sprechen, die diese Verbindung konstituiert. Damit einher geht eine neue Definition des Finanzkapitals, die sich beträchtlich von der durch Hilferding formulierten und durch Lenin wieder aufgenommenen unterscheidet. Der Finanz- und Wissenskapitalismus ist in seiner Globalität zu begreifen, nicht indem man diese oder jene Erscheinung isoliert.

Nach der Krise der New Economy

Das Platzen der Spekulationsblase im März 2000 markiert die erste Finanzkrise des Wissenskapitalismus. Es ist tatsächlich vor allem eine Finanzkrise, die den »von unten nach oben« verlaufenden Prozess der »Unternehmerisierung« des general intellect plötzlich unterbricht und den an die Börse drängenden Start-up-Firmen die Grundlage entzieht. So gesehen ist die Börsenkrise ein Angriff auf die lokale Dimension des Wissenskapitalismus, insbesondere auf die Konzentration einer großen Zahl von High-Tech-Unternehmen im Silicon Valley, deren rasches Wachstum durch ihre »digitale Überproduktion« zur Krise beigetragen hat. Viele der Dotcom-Unternehmen sind in der Folge verschwunden.

Zugleich zeigt sich die Krise 2000 als eine Krise der eigentümlichen räumlichen Bewegung der New Economy weltweit. Die »Internet-Konvention«, von der sich die Märkte zwischen 1998 und Anfang 2000 ziehen lassen, ist vor allem Ausdruck einer ausgeprägten und weit reichenden »Kognitarisierung« der Arbeit, der Verschiebung der Innovationsdynamik aus den abgeschlossenen Räumen der F&E im Fordismus in die Körper der lebendigen Arbeit. Die Kapitalströme nun, die aus dem Rest der Welt in die an den US-Börsenmärkten gehandelten Aktien und Wertpapiere fließen, jagen im wahrsten Sinne des Wortes den Strömen amerikanischer, europäischer und asiatischer Wissenschaftler nach, die in den 1990er Jahren ins Silicon Valley kommen, ganz so, wie zu anderen Zeiten junge Schauspieler nach Hollywood gingen.

Der Zustrom von Kapital und kognitiver Arbeitskraft (von innerhalb und außerhalb der USA) führt in einem gewissen Sinn zu einer Amerikanisierung des general intellect; zugleich sind beide Prozesse der Ausgangspunkt eines spektakulären Wachstums des Informations- und Kommunikationstechnologiesektors sowie von »Vermögenseffekten« aus Finanzmarktrenditen. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den USA ist besonders diesem Wachstum im Bereich der neuen Technologien geschuldet; zugleich wirkt sich die Angebotssteigerung nachhaltig auf die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus. Die Clinton-Jahre der New Economy sind geprägt durch ein keynesianisches Wachstum neuen Typs, charakterisiert zum einen durch eine Verringerung der sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, zum anderen durch expandierende Steuereinnahmen dank der Besteuerung von Kapitaleinkünften, wodurch es möglich war, im Bundeshaushalt sogar Überschüsse zu erzielen. Man könnte von einem »Finanzkeynesianismus« sprechen, von einer makroökonomischen Regulation, die auf einem deficit spending der Unternehmen und Privathaushalte beruht.

In den USA bedeutet die Krise den Übergang vom Wachstum auf der Angebotsseite zu einer Nachfrageexpansion. Zwischen Ende 2000 und 2003 wird die Geld- und Währungspolitik der Federal Reserve völlig darauf ausgerichtet, die private Nachfrage durch Erleichterung der Kreditaufnahme zu stützen. Mit den von der Fed festgesetzten Leitzinsen in Höhe von rund einem Prozent – also real negativen Zinsen – wird ein anhaltend hohes Konsumniveau gesichert: Möglich wird dies für die Privathaushalte zudem durch das Aufbrauchen von Ersparnissen und durch (neue) Hypothekendarlehen (remortgaging), eine Form der Verschuldung, die wiederum durch das ständig steigende Preisniveau bei Immobilienwerten begünstigt wird. Anders als in der großen Depression der Jahre nach der Krise von 1929, die durch den Einbruch der Verbrauchernachfrage nach Gütern und Dienstleistungen geprägt war, sind die Jahre nach der Krise der New Economy durch einen starken Rückgang der Investitionsgüternachfrage gekennzeichnet, und zwar insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie.22

Im Wiederaufschwung, in der Überwindung der Krise der New Economy wird die räumliche Struktur des Wissenskapitalismus im globalen Maßstab neu definiert. Wieder jagen die Kapitalströme den Bewegungen des Kognitariats nach, doch diesmal ausgehend von den USA in Richtung der asiatischen Länder, verbunden mit Outsourcing und offshoring, der Verlagerung ins Ausland, in Länder, in denen die Lohnkosten zehnmal niedriger liegen als in den westlichen Industriestaaten. Die Krise der Finanzialisierung der lebendigen Wissens- und Innovationsarbeit der 1990er Jahre, die Unmöglichkeit, die positive und expansive Dynamik aus Unternehmensgründung, Fusion und Übernahme, die sich aus dem ständigen Kapitalzufluss in die USA speiste, zu reproduzieren, dessen ungeachtet die Notwendigkeit, die kapitalistische Akkumulation wieder anzukurbeln, gestützt auf innovative immaterielle Arbeit, all das zwingt das Kapital, den Verlust von Risikoprämien und goodwill zu kompensieren, indem es auf drastische Kürzungen bei den Löhnen der Wissensarbeiter setzt.23

Die Krise von 2000 ist so gesehen insgesamt ein Angriff auf das materielle Potenzial des general intellect, auf seine Verhandlungsmacht,24 die in den Jahren des Booms der New Economy einen Teil des geschaffenen Reichtums von den Aktionären zu den Wissensarbeitern umverteilte.25 In den Blick geraten beispielsweise China und Indien, die für ein enormes Arbeitskräftereservoir und ein niedriges Lohnniveau stehen: Die lebendige Arbeit in diesen Länder steht bereit, in die globalen Produktionskreisläufe der Informations- und Kommunikationstechnologie wie auch der immateriellen Güter und Dienstleistungen einzutreten. Die Krise eröffnet die Gelegenheit zur Deterritorialisierung, Prekarisierung und Reterritorialisierung des general intellect in den Ökonomien der industrialisierten Länder wie der Schwellenländer.26

Die globale Neuzusammensetzung des Kognitariats

Die neue weltweite Gestalt des Wissenskapitalismus, die Inversion des Stroms der Direktinvestitionen, die Prekarisierung der Wissensarbeit in Industrieländern und die Vervielfachung neuer Silicon Valleys in Schwellenländern zwingen dazu, den Raum der politischen Neuzusammensetzung des Kognitariats neu zu definieren. Schon gleich freilich gilt es dabei den Gedanken eines Handelskonflikts zwischen Industrie- und Schwellenländern zu verwerfen, samt der entsprechenden nationalstaatlich-protektionistischen Vorstellungen.

Die Umkehrung der Investitionsströme, wie sie sich in den Jahren nach 2000 auf den Finanzmärkten durchgesetzt hat, spiegelt sich im ungeheuer schnellen Anwachsen des US-amerikanischen Haushalts- und Handelsbilanzdefizits ebenso wider wie in den steigenden Überschüssen der asiatischen Länder, so beispielsweise in China, wo angesichts eines anhaltend starken Stroms ausländischer Direktinvestitionen der Überschuss im Jahr 2004 fünf Prozent des BIP übersteigen sollte. Ein weiterer Effekt ist die Akkumulation von Währungsreserven in den asiatischen Staaten, Reserven, die von den Notenbanken dieser Länder dazu verwendet werden, die Abwertung des Dollar zu bremsen, indem sie US-Staatsanleihen kaufen. (Solange die Renditen auf diese Staatsanleihen niedrig gehalten werden, ist es den Finanzmärkten in den USA umgekehrt möglich, sich vor einer Schwächung des Dollar zu schützen.) Zu Beginn des Jahrzehnts führt die Umkehrung der Kapitalströme noch zu keinen offensichtlichen Erschütterungen, weil die Abwertung des Dollar den Export amerikanischer Güter stärkt (wenn auch nicht in ausreichendem Maße) und zugleich die repatriierten Gewinne der Auslandsfilialen amerikanischer multinationaler Konzerne vermehrt.

In den weltweiten Währungs- und Finanzkreisläufen hat sich eine Art Gleichgewicht etabliert, was bei aller Instabilität einem Handelskrieg zwischen den USA, China und anderen asiatischen Staaten – wie etwa Japan, dessen Handelsbilanz ebenfalls einen beträchtlichen Überschuss aufweist – eher entgegensteht. Die Amerikaner sind darauf angewiesen, den asiatischen Ländern Staatsanleihen zu verkaufen, und die Asiaten umgekehrt sind, vor allem wenn sie immer mehr exportieren wollen, darauf angewiesen, Ausgangserzeugnisse und Investitionsgüter zu importieren, auch aus den USA und anderen westlichen Ländern, um ihre hohen Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Ganz zu schweigen davon, dass ein expandierendes Volumen der in Asien produzierten und in die USA importierten Güter letztlich Offshoring-Prozessen zu verdanken ist, das heißt der Auslagerung der Produktion amerikanischer transnationaler Konzerne in Länder wie China und verstärkt auch Indien. So gesehen treiben die USA vor allem mit sich selbst Handel.

»Wenn Wal-Mart seine Waren zum größten Teil importiert oder Intel seine Mikroprozessoren überwiegend offshore produziert, so ist das unterm Strich für die Firmen großartig. Doch trägt es zu einem inzwischen strukturell gewordenen Handelsbilanzdefizit bei. Als Förderer eines freien Handels befürworten die USA natürlich Vereinbarungen wie das NAFTA, doch letztlich bringen diese den Exporteuren in den Partnerländern mehr als den amerikanischen.«27

Genau dieser strukturelle Charakter des amerikanischen Handelsbilanzdefizits spiegelt zum einen natürlich die Globalisierung der Produktionsprozesse wider; zum anderen jedoch werden gleichzeitig auf bemerkenswerte Art die Auswirkungen des sinkenden Dollarkurses auf grundlegende ökonomische Parameter gedämpft. Es lässt sich nicht behaupten, wie die neoklassische Standardtheorie es tut, ein Außenhandelsdefizit sei vornehmlich die Kehrseite eines Haushaltsdefizits und schwankender Wechselkurse. »Je mehr der Staat sich verschuldet, desto umfangreicher muss Kapital importiert werden«, ist eine Vorstellung, die durch die Fakten widerlegt wird: In den 1990er Jahren nahm das US-amerikanische Handelsbilanzdefizit unaufhörlich zu, trotz des schrittweisen Abbaus des öffentlichen Defizits und trotz der Rezession von 1991. Die in Boca Raton (Florida) am 7. Februar 2004 getroffene Vereinbarung, in der die G7-Länder sich einigten, zum einen den Druck auf den Euro zu verringern und zum anderen, mit Blick auf die asiatischen Währungen, eine größere Flexibilität auf den Währungsmärkten zu unterstützen, sollte nicht nur auf reale Wechselkursentwicklungen kaum Auswirkungen zeigen, sondern auch die grundlegenden Ungleichgewichte, die sich in den Jahren nach der Krise von 2000 herausgebildet haben, nicht im Geringsten beeinflussen.28

Mit der 2003 einsetzenden Erholung der Börsenkurse infolge der beginnenden finanziellen Genesung der Unternehmen hebt in den ersten Monaten 2004 eine neue Welle von Firmenfusionen und -übernahmen an. Nicht nur in Asien, wo die Zahl der Start-up-Unternehmen wie auch die der Übernahmetransaktionen immens angestiegen ist,29 zeigt sich eine solche Dynamik von mergers & acquisitions, sondern auch in Europa und den USA, wenngleich weniger ausgeprägt.30 Im Vergleich zu den 1990er Jahren, als Investitionen vor allem darauf zielten, die in Start-ups entwickelten Innovationen möglichst rasch zu kapitalisieren, sind nunmehr die Rationalisierung von Unternehmen, die Flexibilisierung und Auslagerung von Arbeitskraft, die Senkung der Lohnkosten und die Erhöhung der Produktivität die Kriterien, an denen sich die Wiederaufnahme der Investitionstätigkeit orientiert. Für die Managerphilosophie heute gilt folglich: »Das Wachstum kann warten, der Profit kann es nicht«.31

Wir befinden uns in einer Phase des Wissenskapitalismus, die im globalen Maßstab, unter Einschluss der asiatischen und lateinamerikanischen Schwellenländer, durch eine politische Regulation gekennzeichnet ist, die den Wert der Arbeitskraft »drückt«. Typisches Merkmal dieser neuen Phase ist vor allem in den Industrieländern des Zentrums die Prekarisierung von Wissensproduktion, Innovation und Forschung. Die Schulen und Universitäten, die Forschungszentren, die flexiblen Unternehmen sowie der Arbeitsmarkt sind indes alles »Orte«, an denen der Angriff auf den Wert der Arbeitskraft vorrangig darauf zielt, die Umrisse einer politischen Neuzusammensetzung des Wissensproletariats, des Kognitariats, zu eliminieren.

Im Laufe der Entwicklung des industriellen Kapitalismus haben in den Ländern des Zentrums Klassenkämpfe, politische Kämpfe um den Lohn und kollektive Verhandlungen zwischen Lohnarbeit und Kapital die Regeln von ökonomischem Kalkül und Profitrate immer wieder untergraben.32 Zu Zeiten des Fordismus hieß es, ein Arbeiter aus Michigan könne mit einer Stunde seiner Arbeit das kaufen, was ein Arbeiter aus dem Süden im Verlauf eines ganzen Tages produziert. Kapitalströme flossen vom Süden in den Norden, die Profitraten und Löhne in den Ländern des Zentrums waren höher als in denen der Peripherie. Die Kämpfe der multinationalen Arbeiterklasse haben indes die Vorstellung erschüttert, es sei die Arbeiterklasse der reichen Länder, welche die Arbeiterklasse der armen Länder ausbeutet. Gewiss, das Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden ist nicht geringer, sondern sogar noch größer geworden, doch der Zyklus von Kämpfen der fordistischen Arbeiterklasse hat den Fordismus selbst gesprengt. Das Kapital war gezwungen, sich zu globalisieren und die allgemeinsten Fähigkeiten der lebendigen Arbeit in den Produktionsprozess einzubeziehen, nämlich ihre kognitiven, relationalen und kommunikativen Vermögen.

Die Umkehrung der Kapitalströme aus dem Zentrum in die Schwellenländer wird es bestimmt nicht erlauben, für den Gegenwert einer Stunde Arbeit eines indischen oder chinesischen Arbeiters das zu kaufen, was von dessen amerikanischen oder europäischen Kollegen an einem Tag produziert wurde. Doch die Verkäuferinnen bei Wal-Mart oder die Softwareprogrammierer in den Ländern des Nordens arbeiten nun effektiv mehr und bekommen dafür weniger Lohn. Kämpfe gegen Prekarität und für eine Erhöhung der Einkommen besitzen daher heute bereits eine globale Dimension, in der die Geschicke der Multitude sich vereinen.

1 Donald J. Johnston, »An economic and social imperative: Education needs to adapt to a changing world«, International Herald Tribune, 19. März 2004.

2 »Il diritto allo studio minacciato. Verso un aumento delle tasse universitarie«, Solidarietà, 18. März 2004. Der Text wurde als Flugblatt des Movimento per il socialismo, einer studentischen Gruppe, an der Universität des Tessin verteilt.

3 »Die gegenwärtig sich vollziehende Neugestaltung der Hochschulbildung bedeutet in den nächsten Jahren für die große Mehrheit der Studierenden nicht nur weniger Mittel für ihr Studium. Für die Absolventen dieser Hochschulen bedeutet sie zugleich, dass ihre künftigen Einkommen zunehmend unter Druck geraten. Letztlich werden unsere zukünftigen Arbeitgeber versuchen, Mitarbeitern mit einem in nur drei Jahren erreichten Bachelor weniger zu zahlen als Kollegen mit einem in vier Jahren erreichten Diplom.« (Ebd.)

4 Vgl. »Der Europäische Hochschulraum«, Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, 19. Juni 1999, Bologna.

5 »Die Theorien des endogenen Wachstums sind sich mit den meisten vorangegangenen Theorien darin einig, im technischen Fortschritt den Antrieb des Wirtschaftswachstums zu sehen. In Bezug auf zwei Sachverhalte gehen sie jedoch weiter als die früheren: Sie integrieren den technischen Fortschritt, indem sie ihn als das Ergebnis einer entgoltenen Wirtschaftstätigkeit ansehen (und ihn entsprechend auf einem endogenen Niveau ansiedeln); und sie entwickeln vielfältige Modelle technischer Formen und ihrer Entwicklung […]. Es ist die zum Teil öffentliche Natur des Wissens, die es zum Motor des Wachstums macht«. (Dominique Guellec/Pierre Ralle, Les nouvelles théories de la croissance, Paris 1995, S. 63.)

6 Vgl. Michel Aglietta, Macroéconomie financière I: Finance, croissance et cycles, 4. Aufl., Paris 2005, Kapitel 1.

7 Vgl. Nathalie Moureau/Dorothée Rivaud-Danset, L’incertitude dans les théories économiques, Paris 2004.

8 Untersuchungen verschiedener grundlegender Aspekte des Wissenskapitalismus, relevant auch für die hier verfolgte Frage nach der Beziehung von Forschung, Innovation und Finanzierung, versammelt der Band von Carlo Vercellone (Hg.), Sommes-nous sortis du capitalisme industriel?, Paris 2003. Vgl. auch den der gleichen theoretischen Tradition verpflichteten Sammelband von Yann Moulier Boutang (Hg.), L’età del capitalismo cognitivo. Innovazione, proprietà e cooperazione delle moltitudini, Verona 2002.

9 Zur Unterscheidung und zum Gegensatz zwischen Informations- und Wissensökonomie, vgl. Robert Boyer, La croissance, début de siècle. De l’octet au gène, Paris 2002: »Die Dynamik der Ersteren [der Informationsökonomie] speist sich aus technologischen Innovationen, die es – als Hard- oder Software – tendenziell ermöglichen, die Kosten der Datenverarbeitung und -übertragung zu senken. Im Gegensatz dazu zielt Letztere [die Wissensökonomie] auf das Untersuchen und Begreifen natürlicher, physikalischer, chemischer, biologischer und selbstverständlich auch sozialer und ökonomischer Phänomene: Die Innovationen sind wissenschaftlicher und/oder naturwissenschaftlicher Art, es handelt sich also, allgemeiner ausgedrückt, um Wissensinnovationen. Idealtypisch gesprochen zeigt sich hier also der Gegensatz zwischen der Welt der offenen und freien Wissenschaft und der Welt der Technologie, die auf dem Bemühen beruht, sich bestimmte Fortschritte, neue Kenntnisse und Lösungen anzueignen, zumindest vorübergehend. Es gibt kein besseres Beispiel für die einander entgegenstehenden Imperative beider Sphären als die Debatten über die Patentierbarkeit lebender Organismen und darüber, inwieweit es Unternehmen möglich – und erlaubt – sein soll, biologische Entdeckungen und ihre Nutzung zu monopolisieren.« (Ebd., S. 174f.)

10 Zum politischen Widerspruch zwischen Informations- und Wissensökonomie, vgl. L.A.S.E.R., Scienza Spa. Scienziati, tecnici e conflitti, Roma 2002: »Mit der technologischen Entwicklung entstehen an den Orten wissenschaftlicher Produktion und Forschung neue Konflikte. Solche zunächst lokalen Diskrepanzen finden ihre Verbindung in der Entwendung des Wissens. Eine derartige Entwendung liegt etwa vor, wenn Beschäftigte Technologien zu anderen Zwecken einsetzen, als sie durch die Vorgaben des jeweiligen privaten oder öffentlichen Arbeitgebers definiert sind. Ein schlagendes Beispiel wäre die Verwendung von Computernetzen, um Verbindungen zwischen Subjekten in politischen und sozialen Kämpfen herzustellen. Die Netzwerk-Kultur, die Arbeit im Netz lässt sich also autonom und antagonistisch rekonstruieren und bezieht dabei die Technologie, auf der sie beruht, in die Kämpfe ein.« (Ebd., S. 110f.)

11 Noch ein Beispiel für Wertpapiere, die Rücklagen »umgeleitet« haben, sodass sie für die Finanzierung »produktiver« Innovation nicht zur Verfügung standen, sind Aktien börsennotierter Unternehmen, deren Zahl im Gefolge massiver Fusions- und Konzentrationsprozesse zurückging; ein wiederum anderes Beispiel sind die Aktien privatisierter, ehemals staatlicher Unternehmen, die zudem häufig unterbewertet waren.

12 Die nach 2001 vor allem im Immobiliensektor wieder einsetzende Inflation, die der Krise der New Economy folgt, hat in den USA zur Konsequenz, dass die Nachfrage nach Konsumgütern und Dienstleistungen auf relativ hohem Niveau anhält, während zur gleichen Zeit auf Seiten der Unternehmen die Nachfrage nach Investitionsgütern (insbesondere im Bereich der Hochtechnologie) nachlässt – eine Folge der »digitalen« Überproduktionskrise einerseits, der von der Federal Reserve verfolgten Niedrigzinspolitik andererseits.

13 Einen historischen Überblick über die wichtigsten Stationen des Zusammenspiels von universitärer Grundlagenforschung, Pentagon und Privatwirtschaft gibt, gestützt auf Arbeiten von Alfred Chandler, Nathan Rosenberg und David Mowery, ein Artikel von Benedetto Vecchi, »I combattenti dell’high tech americano«, il manifesto, 11. Juli 2003.

14 Aglietta, Macroéconomie financière, S. 31.

15 Business angels sind kleine Gruppen von Investoren, die über Vermögen verfügen, in der Regel selbst (ehemalige) Unternehmer, die häufig durch Partnerschaftsgesellschaften verbunden sind. Wesentliches Merkmal ihrer Tätigkeit ist das Networking, das Schaffen persönlicher und oft informeller Beziehungsnetzwerke, um auf innovative Projekte aufmerksam zu werden, die sich finanziell unterstützen und verwerten lassen. Ein solches Moment persönlicher Beziehungen im Prozess der Finanzialisierung/»Unternehmerisierung« der Innovation fehlt in Europa vielfach, wo in der Regel von Anfang an unpersönliche Finanzierungs- und Bilanzierungslogiken vorherrschen, die letztlich die Chancen einschränken, das weite Feld des Wissens und diffuser Kenntnisse in Unternehmen zu verwandeln.

16 Faktisch bezeichnet goodwill den (immateriellen) Geschäfts- oder Firmenwert eines Unternehmens, das heißt eine Vielzahl »nicht gegenständlicher« Vermögensposten, wozu etwa qualifizierte Mitarbeiter, die Qualität des Managements, Standortfaktoren, Gewinnaussichten, das Kundenpotenzial oder die Kreditwürdigkeit gehören. Die Bewertung des immateriellen Geschäftswerts ist in bestimmten Augenblicken der Unternehmensgeschichte entscheidend, nämlich beispielsweise bei einer Liquidation, einer Übertragung oder einer Fusion des Unternehmens. Der Umfang des goodwill entspricht der Differenz zwischen dem einem Unternehmen oder Unternehmensteil beizumessenden ökonomischen Wert, in den die Renditeaussichten einfließen, und dem bilanzierten Nettovermögen. In der Bilanz wird der Posten unter den Eigenmitteln ausgewiesen; bei großen, börsennotierten Unternehmen kann der Anteil zwischen 70 und 100 Prozent des Eigenkapitals betragen. Daran zeigt sich die heutzutage entscheidende Bedeutung, die dem immateriellen Kapital im Verhältnis zum materiellen (im körperlich-tangiblen Sinn) zukommt. Mit steigendem goodwill, beispielsweise als Ergebnis einer Fusion, steigt auch die Fähigkeit des Unternehmens zur Kreditaufnahme (definiert durch das Verhältnis von Schulden zu Eigenmitteln). Verkleinert sich hingegen die »goodwill-Spanne«, was in der Krise der New Economy verstärkt zum Tragen kam, führt das seinerseits zu einer Verkleinerung der Kreditaufnahmefähigkeit des Unternehmens. Um letztere wieder herzustellen, werden zur Senkung der Betriebskosten Rationalisierungsmaßnahmen eingeleitet, insbesondere Maßnahmen zur Reduzierung oder Externalisierung der Personalkosten.

17 Das nachahmende Verhalten, das die Entschlüsse und Entscheidungen von Wertpapierhändlern kennzeichnet, beruht letztlich auf der Liquidität der Papiere, das heißt auf ihrer Handelbarkeit selbst. »Es geht darum«, beschreibt André Orléan das Phänomen, »etwas, das nichts weiter ist als eine persönliche Wette auf zukünftige Dividenden, hier und jetzt unmittelbar in Reichtum zu verwandeln. Es ist daher notwendig, individuelle und subjektive Bewertungen zu einem allseits akzeptierten Preis werden zu lassen. Anders ausgedrückt, die Liquidität zwingt dazu, eine Bewertung zu schaffen, auf die alle Finanzakteure sich beziehen und die ihnen den Preis nennt, zu dem ein Papier zu handeln ist. Die soziale Struktur, die ein solches Ergebnis herbeizuführen erlaubt, ist der Markt: Der Finanzmarkt organisiert das Aufeinandertreffen der einzelnen Anleger mit ihren persönlichen Einstellungen, um eine kollektive Beurteilung oder Bewertung hervorzubringen, die den Status einer Bezugsgröße gewinnt. Der auf diese Weise gebildete Kurs stellt seiner Natur nach einen Konsens dar, in dem die Übereinkunft einer Gemeinschaft von Finanzakteuren Gestalt angenommen hat. Öffentlich bekannt gegeben, wird der Wert zur Norm: Das ist der Preis, zu dem der Markt den An- und Verkauf eines bestimmten Papiers zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptiert. So wurde das Papier liquide. Der Finanzmarkt schafft, indem er die kollektive Einstellung als Referenznorm instituiert, eine einmütig durch die Gemeinschaft der Finanzakteure anerkannte Wertbestimmung von Papieren.« (André Orléan, Le pouvoir de la finance, Paris 1999, S. 32) Konventionen solcher Art erlauben es, die Vielfalt individueller Entscheidungen als einer überindividuellen Rationalität (oder Einsicht) gehorchend zu homogenisieren; die Märkte finden dadurch ihre »ideologische« Orientierung. Was die »Internet-Konvention« seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre anbelangt, vgl. Luca De Biase, Edeologia. Critica del fondamentalismo digitale, Rom 2003.

18 Zu den Widersprüchen, die die kapitalistische Logik innerhalb des Informatikbereichs entfaltet, insbesondere zum Problem geistiger Eigentumsrechte angesichts »offener« Systemumgebungen, vgl. Jim Kerstetter/Steve Hamm/Spencer E. Ante/Jay Greene, »The Linux Uprising. How a ragtag band of software geeks is threatening Sun and Microsoft – and turning the computer world upside down«, Business Week, 3. März 2003.

19 Ich beziehe mich im Folgenden auf Anmerkungen von Philippe Zarifian zu meiner Untersuchung E il denaro va. Esodo e rivoluzione dei mercati finanziari (Turin 1998; dt. Fetisch Geld. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft im monetaristischen Zeitalter, übers. v. Massimo Romano, Zürich 1999). Zarifian präsentierte seine Überlegungen in einer Debatte in der Maison des Sciences Economiques, an der Sorbonne, anlässlich des Erscheinens der französischen Übersetzung meines Buches (Et vogue l’argent, übers. v. Anne Querrien u. François Rosso, Paris 2003); vgl. Zarifian, »Productivité, événement et communication dans le post-fordisme. Sur le livre de Christian Marazzi: Et vogue l’argent«, Multitudes 18 (2004), S. 203–210.

20 Vgl. hierzu Orléan, der in Le pouvoir de la finance über die Funktion von Aktien bei Unternehmensübernahmen und -fusionen schreibt: »Gewiss, Aktien sind keine Zahlungsmittel. Sie besitzen eine nur partielle Liquidität, was bedeutet, dass sie als Handelsinstrument nicht allgemein akzeptiert sind. Dennoch sind sie im Umlauf und bereits außerordentlich weit verbreitet, nicht nur als Reserven, sondern auch als Tausch- und Zahlungsmittel für bestimmte Transaktionen. Das lässt sich beispielsweise bei Firmenübernahmen sehen, wenn ein Unternehmen ein anderes mithilfe eigener Aktien kauft, oder besser noch, wenn Manager Einkommen in stock options beziehen. Aus diesem Grund lassen sich Aktien als Zahlungsmittel in Embryonalform analysieren, auch wenn damit keine Konsumgüter zu erwerben sind.« (S. 242)

21 Zarifian, »Productivité, événement et communication«, S. 205f. – Zugleich verfügen die Pensionsfonds über Experten und eine wissenschaftliche Infrastruktur, die ständig strategische Entscheidungen des Managements von Unternehmen, an denen die Fonds signifikante Kapitalbeteiligungen halten, im Hinblick auf Renditeerwartungen und tatsächliche Börsenkurseffekte bewerten.

22 Die rasche Überwindung der Rezession, die nach offiziellen Angaben nur bis ins erste Quartal 2001 anhält, wird insgesamt nur möglich dank der Konsumnachfrage der amerikanischen privaten Haushalte und aufgrund einer allmählichen Entschuldung von Unternehmen bei den Banken. Damit einhergehend brechen die Höherbewertungen des Geschäftswertes (der goodwill also) aus den Jahren des Wachstums der New Economy ein. Die finanzielle Sanierung der Unternehmen schließlich wird erreicht vor allem durch Kürzungen bei Löhnen und Gehältern, bei (Neu-)Investitionen sowie durch das Rekurrieren auf noch vorhandene Rücklagen.

23 Ein bemerkenswerter, in Business Week erschienener Beitrag hebt die Notwendigkeit hervor, über Forschungsanstrengungen innerhalb von Unternehmen hinauszugehen und innovative Ideen aufzunehmen, wo auch immer sie produziert werden, im Bereich des geistigen Eigentums also auf Externalisierung zu setzen: Aufzubauen seien entsprechend Beziehungen zu »Zulieferbetrieben« im Forschungsbereich, zu Universitätslaboren, die mit Risikokapital umworben werden können, während man ihre wissenschaftliche Eigenständigkeit respektiert; man habe auch auf die »Nebenprodukte« der Forschung zu achten und sie zu fördern, da sich hier neue Ideen fänden, für die Risiken einzugehen sich lohne; vgl. Jay Greene/John Carey/Michael Arndt/Otis Port, »Reinventing Corporate R&D«, Business Week, 22. September 2003).

24 In der sogenannten knowledge economy, im Wissenskapitalismus, besteht das Hauptproblem für das Kapital darin, das in der lebendigen Arbeit inkorporierte Wissen »anzuwenden«. Dieses Bemühen um das Wissen der Arbeitskraft stellt für das Kapital ein wirkliches Problem dar, ablesbar etwa an den zahlreichen stock options, die in den Jahren des Booms an die Wissensarbeiter der New Economy verteilt wurden. Im Wissenskapitalismus ist es, wie sich zeigt, zum einen notwendig, das Unternehmen zu finanzialisieren (ein höherer Aktienkurs erhöht den Gegenwert der stock options), um das Wissen der lebendigen Arbeit einzufangen und vor allem zu halten; doch ist das nicht hinreichend, denn diese Arbeitskraft ist widerständig, sie ist in der Lage, sich ihrer völligen Subsumtion unter das Kapital zu entziehen, und sie tut das, wenn die Wissensproduktion umschlägt und ganz offen nur noch Finanzimperative kennt, das heißt, sobald die Orientierung an den Aktienkursen wichtiger wird als die gelebte Orientierung der Wissensarbeiter – ihr »Wertesystem«. An dieser Stelle lohnt es sich, die bereits erwähnte Untersuchung von De Biase (Edeologia) ausführlicher zu zitieren: »Abends dann lässt er [Marc Andreessen, der mit Jim Clark zusammen Netscape gegründet hat] die Bemerkung fallen, dass er stinkreich sei. Aber das ist für ihn kein Grund zum Freudentaumel. Den Journalisten sagt er, es sei funny money, auf der Straße gefundenes Geld. Nicht einmal seine jungen Programmierer würden heute beim Anblick von Geld noch leuchtende Augen bekommen. Ihr Herz hängt daran zu sehen, wie oft ihre Software von Leuten im Netz heruntergeladen wurde. Sie interessieren sich dafür, welche Version am besten ankommt. Und unterdessen arbeiten sie wie besessen, ohne regelmäßige Arbeitszeiten, im Wettlauf mit der Zeit, die im Netz noch schneller vergeht. Einer von ihnen, Lou Montulli, räumt immerhin ein, er sei zufrieden, dass er die finanziellen Sorgen alle los ist, aber dann meint er gleich: ›Nimm einen chinesischen Arbeiter. Ich verdiene wahrscheinlich eine Million Mal mehr als er. Klar, zu sagen, was der wahre Wert ist, ist schwierig. Und sicher habe ich hart gearbeitet. Aber habe ich wirklich so hart gearbeitet, dass es einen solchen Unterschied rechtfertigen würde wie den zwischen mir und dem chinesischen Arbeiter?‹ Angesichts der Rätsel der Finanzwelt sucht Montulli nach einem Maßstab, der ihm hilft, die Situation einzuordnen. Er findet ihn nicht. Und das gefällt ihm nicht.« (S. 69f.)

25 John Plender, Ökonom und Kolumnist der Financial Times, hebt in seinem Buch Going off the Rails. Global Capital and the Crisis of Legitimacy (London 2003) zu Recht hervor, im Wissenskapitalismus gebe es im Überfluss Kapital auf der Suche nach hohen Renditen, das darum wetteifert, das knappe und für die Unternehmen strategische Wissen anzuziehen. Knapp muss hier verstanden werden als Hinweis auf die Kosten, um die Arbeitskraft der Wissensarbeiter in den Unternehmen zu kooptieren, insbesondere in der Hightech-Industrie. Während der 1990er Jahre gingen in diesem zentralen Sektor der New Economy im Durchschnitt 73 Prozent des Gewinns vor Steuern an die Mitarbeiter. (In den 325 größten börsennotierten Unternehmen betrug dieser Anteil im Durchschnitt 20 Prozent.) Die Spannung zwischen einem Überfluss an Kapital, den Plender auf sinkende Preise beim Anlagekapital und auf dessen »Verschlankung« zurückführt, und den hohen Kosten des lebendigen Wissens in der Produktion lässt sich, so der Autor, als Hinweis verstehen, dass das traditionelle Aktiensystem (mit seiner Orientierung am shareholder value) ungeeignet ist, um im Wissenskapitalismus Unternehmen zu finanzieren. Das »Humankapital« besitzt einen Wettbewerbsvorteil, der sich gleichzeitig für die Aktionäre als Nachteil auswirkt. Letztere befinden sich in einer Position der Schwäche Unternehmen gegenüber, in denen die lebendige Wissensarbeit im Mittelpunkt steht, und üben deshalb starken Druck auf diese Unternehmen aus, um höhere Aktienrenditen zu erzielen (in den 1990er Jahren waren Renditen um 15 Prozent die Norm). Auf diese Art tragen sie dazu bei, die autoreferentielle Dynamik der Finanzmärkte zu verstärken – bis zum Platzen der Spekulationsblase.

26 Zur Kontroverse um die positiven und negativen Folgen des outsourcing und offshoring von US-Unternehmen vgl. den Schwerpunkt »Software. Will outsourcing hurt America’s supremacy?«, Business Week, 1. März 2004; vgl. auch »The new jobs migration«, The Economist, 19. Februar 2004.

27 Robert Kuttner, »What’s Really Feeding The Trade Deficit Beast«, Business Week, 29. Dezember 2003.

28 Die Debatte über die Risiken, die mit einer Abwertung der US-Währung verbunden sind, ist entsprechend als das zu verstehen, was sie tatsächlich ist. Die Beschleunigung der Globalisierung des Kapitals, der Kapitalfluss nach Asien und die Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung offenbaren einen grundlegenden Widerspruch zwischen dem Währungs- und Geldkreislauf, in dessen Mittelpunkt der US-Dollar steht, und der in immer stärkerem Maße polyzentrischen Struktur der Weltwirtschaft. Eine – gegebenenfalls stufenweise – Abwertung des Dollar lässt nicht erwarten, die strukturellen Ungleichgewichte der US-Ökonomie erfolgreich auszugleichen, zwingt aber die Notenbanken der asiatischen Länder, verstärkt US-Staatsanleihen zu kaufen, um ihre Währungen zu schützen, was wiederum wesentlich ist, um hohe Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Die Folge ist, dass die USA weiterhin in der Lage sind, ihre Militärausgaben zu erhöhen und ihren Kurs der geopolitischen und militärischen Redefinition der imperialen Herrschaftsverhältnisse fortzusetzen. Vermeiden müssen die USA dabei allerdings, dass ihre Währung zu schnell an Wert verliert, denn das würde eine Kapitalflucht aus den Aktienmärkten und, was noch gravierender wäre, aus den US-Staatsanleihen provozieren. Das innere sozio-ökonomische Gleichgewicht in den USA ginge verloren, bei steigenden Zinssätzen verbunden mit einer unerträglichen Verschuldung der Privathaushalte. Die aktuelle Situation der US-Ökonomie ist der Situation der Schwellenländer in den 1990er Jahren vergleichbar, mit dem Unterschied allerdings, dass auf deren strukturelle Schwäche die Amerikaner mit dem war on terror antworteten.

29 Vgl. F. Guerra, »Asian Companies Raise a Record Amount of Funds«, Financial Times, 22. März 2004.

30 Vgl. den Sonderbericht »Mergers and Acquisitions«, The Economist, 21.–24.Februar 2004.

31 Vgl. Clayton M. Christensen, Michael E. Raynor, The Innovator’s Solution: Creating and Sustaining Successful Growth, Boston 2003; hier S. 236.

32 Ende der 1960er Jahre hat der marxistische Ökonom Arghiri Emmanuel in seiner Studie über den »ungleichen Tausch«, L’Échange inégal (Paris 1969), einen »skandalösen« Sachverhalt aufgezeigt: Insofern die Profitraten in den Ländern des globalen Südens nicht höher sind als die Profitraten in den Ländern des Nordens (ein Sachverhalt, den in den darauf folgenden Jahren zahlreiche andere Arbeiten nachwiesen) und da die Löhne in den armen Ländern umgekehrt sehr viel niedriger liegen als die in den reichen, führe das (schon allein rein rechnerisch betrachtet) notwendigerweise dazu, dass der in den armen Ländern realisierte Mehrwert von den reichen Ländern »angesaugt« wird, und zwar dadurch, dass die Waren aus den Ländern des Südens zu niedrigeren Preisen verkauft werden. Wer aber zog den Nutzen aus der Ausbeutung der Armen? Die »skandalöse« Antwort Emmanuels war eindeutig: die Arbeiter des Nordens. Es war Luciano Ferrari Bravo, der die Argumentation Emmanuels schließlich politisch dekonstruierte, dabei indes ihre analytische Stimmigkeit anerkannte: Die Kämpfe der Arbeiter eines sich »globalisierenden« Fordismus, die Kämpfe einer multinationalen Arbeiterklasse also, deren Zusammensetzung aus den Migrationsbewegungen jener Jahre resultierte, waren für Ferrari Bravo der Ausgangspunkt, die »Aufhebung« der von Emmanuel marxistisch analysierten Widersprüche zu antizipieren, nämlich das Ende des Fordismus und den Beginn einer neuen Epoche, den Beginn der Globalisierung. – Emmanuels Ansatz wurde in jüngerer Zeit wieder aufgenommen von Daniel Cohen, Globalisierung als politische Herausforderung, übers. v. Gerhard Kilper, Hamburg 2006.

  • crise financière
  • critique du capitalisme
  • capitalisme
  • politique

Veuillez choisir votre langue
Français

Contenu selectionné
Français

Christian Marazzi

Christian Marazzi

est un économiste et politologue suisse. Il enseigne actuellement à la Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Lugano). Ses travaux portent principalement sur l’ère post-fordiste de la production. Membre du conseil éditorial de la revue Multitudes à laquelle il contribue régulièrement, Marazzi est l’auteur de nombreux ouvrages de socio-économie et de politique, parmi lesquels Le Tournant linguistique de l'économie politique (1997) et Et vogue l'argent ! (2003).

Christian Marazzi: Sozialismus des Kapitals

Christian Marazzi

Sozialismus des Kapitals

Traduit par Thomas Atzert

broché, 160 pages

Seit dem Zusammenbruch der Banken im Jahr 2008 scheint der Kapitalismus in eine Phase anhaltender Stagnation sowie geopolitischer und monetärer Instabilität eingetreten zu sein. Das Szenario, das sich vor unseren Augen abspielt, lässt an eine Art »Sozialismus des Kapitals« denken: Der Staat, der die Bedürfnisse der »Finanzsowjets« sichert, erlegt der Gesellschaft die Diktatur des Marktes auf.

Die hier versammelten Texte analysieren und kommentieren die ökonomischen Veränderungen der letzten zehn Jahre entlang von Symptomen, zentralen Akteuren und scheinbaren Randphänomenen. Die Finanzialisierung bildet nicht etwa eine parasitäre Abweichungsform des Kapitalismus, sondern die adäquate und perverse Form seines neuen Regimes. Weit entfernt von einer vereinfachenden oder moralistischen Darstellung der Krise, liest Christian Marazzi die gegenwärtigen Erschütterungen als tiefgreifende Transformationen des Politischen.