Martin Schneider: 1988
1988
(p. 113 – 125)

Martin Schneider

1988
Zwicshen Dialog und Erzählung. Improvisation in Alexander Kluges Fernsehgesprächen

PDF, 13 pages

Der Beitrag untersucht die Fernsehgespräche, die der Autor und Filmregisseur Alexander Kluge seit 1988 mit verschiedenen Gesprächspartnern führt. Es wird gezeigt, dass diesen Gesprächen ein Moment der Improvisation innewohnt, da Kluges Fragetechnik auf Unerwartetes und Unvorhergesehenes zielt. Diese Form des improvisierten Dialogs wird nicht nur zur Tradition der romantischen Improvisation und der zeitgenössischen Fernsehshow (Woody Allen, Harald Schmidt) in Beziehung gesetzt, sondern auch auf seine produktionsästhetische Funktion hin befragt. So kann gezeigt werden, dass sie immer wieder in einen Monolog übergehen und in Erzählungen münden, die alternative Formen der Geschichtsschreibung hervorbringen.

1988
Zwischen Dialog und Erzählung
Improvisation in Alexander Kluges Fernsehgesprächen

Zu vorgerückter Stunde im deutschen Privatfernsehen. Ein Mann mittleren Alters sitzt vor einem Mikrofon. Er hat lange, gewellte Haare, trägt schwarze Kleidung und eine Sonnenbrille. Eine Glühbirne ragt von oben grell ins Bild. Aus dem Off vernimmt man eine Stimme mit kehligem, aber sehr angenehmen Klang, sie stammt von einem älteren Herrn, der hinter der Kamera sitzt:

»Stimme: Herr Fork, sie gehören zu den geheimnisvollen Autoren der Nouvelle Romantic-Richtung. Von ihnen liegt vor der große, abgeschlossene, neue Schicksalsroman ›Eine Liebe im Sechsachteltakt‹. Was ist das?
Fork (Schluckt. Holt tief Luft. Seufzt): Es wäre … Es wäre vielleicht nicht richtig, wenn ich als Autor (Räuspern) … als Autor über das eigene Werk eine Feststellung machen würde.
Stimme: Das Buch spricht für sich.
Fork: Das Buch spricht für sich.
Stimme: Man hat Sie als einen Cousin von Peter Handke beschrieben. Finden Sie
das richtig oder ist das eher abwegig?
Fork: Ähm. (Räuspern) Mein Privatleben ist bis dato angefüllt mit vielen, vielen Enttäuschungen. Aber ich hatte auch etliche Erfolge.
Stimme: Glücksmomente.
Fork: Ja, wie man es, wie man es auch …
Stimme: Und aus diesem Schatz der Erfahrung schreiben Sie.
Fork: Ich schreibe.
Stimme: Wann fangen Sie morgens an?
Fork: Sechs.
Stimme: Sechs Uhr früh?
Fork: Sechs.
Stimme: Vorm Frühstück fällt einem doch gar nichts ein.
Fork: Ich frühstücke um fünf.
Stimme: Und dann geht es mit dem Singen der Vögel …
Fork: Ja.
Stimme: … und dem Stift. Schreiben Sie mit dem Stift oder machen Sie das mit …
Fork: Hand, Hand, Hand. Wie Handke.
Stimme: Aber die Hand, da brauchen Sie einen Stift.
Fork: Ja, Stift. Ich schreibe meist mit einem Bleistift, den ich mit einem Schälmesser spitze.
Stimme: Kartoffelschälmesser?
Fork: Normal, normal. Mit einer Rundung. Ein sogenanntes Peter-Messer mit einer Rundung.
Stimme: Muss immer schön angespitzt sein.
Fork: Ja, muss spitz sein. Schnell passiert natürlich, dass der Bleistift nicht mehr spitz ist, da muss man anspitzen. Und so findet man auch innere Ruhe.
Stimme: Und hier heißt es: ›Zwiebeltürme ragten in den …‹
Fork: ›… von Krähen bevölkerten Novemberhimmel‹.
Stimme: ›Die Stadt atmete ihren …‹
Fork: ›…ihren letzten …‹
Stimme: ›…Nachttropfen …‹
Fork: ›…Nachttropfen ein.‹ Ja.
Stimme: ›Schon schwärmte die Sonne aus‹.
Fork: Richtig.
Stimme: ›… und ihre …‹
Fork: (richtet den Blick andachtsvoll nach oben) ›…goldgelbe Natur umheerte den Horizont‹ (Pause) ›wie …‹ (gibt seinem Gegenüber einen Wink mit der Hand)
Stimme: ›…eine nöhlige Nase ohne Ursprung‹. (Begeistert) Das sind doch Sätze, nicht, daher kommt der Ausdruck Neuromantik.
Fork: Richtig.
Stimme: Weil hier gegriffen wird.
Fork: Hier wird gegriffen.
Stimme: Wer kommt auf den Namen ›Nöhlige Nase ohne Ursprung‹?
Fork: (lächelt selbstsicher) Tja.
Stimme: ›Nase mit Ursprung‹, das kann jeder.«

Robert Fork, das ist der Jazz-Musiker, Schauspieler, Autor und Improvisator Helge Schneider. Die Stimme seines unsichtbaren Gegenübers gehört dem Filmregisseur und Autor Alexander Kluge. Beide, Schneider und Kluge, setzen in diesem Fernsehgespräch aus dem Jahr 2008 eine Improvisation in Szene. Helge Schneider spielt den Schriftsteller Robert Fork, aber sein Text ist nicht vorgegeben. Festgelegt ist nur der Rahmen des Gesprächs, das »live on tape« aufgezeichnet wird. Alexander Kluge sitzt hinter der Kamera und treibt durch seine Einwürfe den Improvisator Helge Schneider zu immer neuen Einfällen. So entsteht ein dialogisches Suchen und Finden, das von der Frage nach den materiellen Bedingungen literarischen Schreibens bis zu der gemeinsamen Produktion eines poetischen Textes reicht. Wie der Vorspann verrät, sprechen Fork und sein Gegenüber »Über das Geheimnis gekonnter Literatur«. Schon in der Ausstattung werden zentrale Topoi des Einfalls zitiert: die Glühbirne, die die Szene erhellt; die Sonnenbrille, die in so vielen Filmen, von Jim Jarmuschs Night on Earth bis zu The Matrix der Wachowski-Geschwister den homerisch-inspirierten Blick in die Welt hinter der Welt versinnbildlicht.

Zugleich gelingt es Schneider und Kluge, ebendiesen neuromantischen Schaffensgestus und seine kulturbetriebliche Verarbeitung im nächtlichen Autorengespräch zu persiflieren. Mit der entscheidenden Pointe, dass Helge Schneider alias Robert Fork das Buch Eine Liebe im Sechsachteltakt tatsächlich geschrieben hat (→ Schneider 2008) und nun versucht, sein Werk in Kluges dctp-Sendung an den satireempfänglichen Leser zu bringen.


Am 2. Mai 1988 wurde Alexander Kluges Kulturmagazin 10 vor 11 zum ersten Mal vom Privatsender RTL plus ausgestrahlt. Seitdem hat Kluge tausende weitere Stunden dieser Magazine produziert, neben 10 vor 11 auch Prime-Time/Spätausgabe und News & Stories. Eine Klausel des Landesmediengesetzes von Nordrhein-Westfalen, die der Jurist Kluge in der Gründungszeit des Privatfernsehens geschickt zu nutzen verstand, verpflichtet die Sender RTL, SAT 1 und VOX, der Gesellschaft dctp Sendezeit einzuräumen. Auf Kluges Homepage werden diese Magazine mit dem Etikett des »Autorenfernsehens« versehen. Durchaus zutreffend, wenn man bedenkt, dass Kluge als Produzent künstlerische Freiheit genießt und in seinen Sendungen andere Autoren zu Wort kommen lässt (→ Hickethier 2002, 207–213).

Die meisten Magazine zeigen Gespräche, die Kluge mit Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern zu Theater, Film und Literatur, aber auch zu Naturwissenschaft und historischen Ereignissen führt. Nicht wenige von ihnen wurden inzwischen transkribiert und liegen in Buchform vor (→ Kluge 2000ff.; → Kluge, Vogl 2009). Gerne lädt Kluge einen Gast mehrmals zum Interview, so entstanden die bekannten Staffeln mit Heiner Müller, Christoph Schlingensief und Joseph Vogl. Eine besondere Spielart sind die »Fake-Interviews«, die Kluge seit der Anfangszeit seiner Magazine führt. Darin schlüpft Kluges Gesprächspartner in die Rolle einer fiktiven Person und kostümiert sich entsprechend. »Er darf nicht wissen, was ich ihn frage, und ich darf nicht wissen, was er antwortet. Wir dürfen uns niemals darüber unterhalten.« So die »Faustregel Nummer eins«, die Kluge für diese Gespräche festgelegt hat (Lutze 2002, 24). Die ersten dieser Interviews entstanden mit dem Schauspieler Alfred Edel, dem der ehemalige Filmproduzent Peter Berling und in jüngster Zeit Helge Schneider nachfolgten. Kluge selbst hat allerdings darauf hingewiesen, dass die Grenze zwischen »realen« und »fiktiven« Gesprächen fließend ist: »Die Gespräche mit Heiner Müller sind in diesem Sinne auch bis zu zwanzig Prozent bewußt Fakes« (ebd.).

Die Forschung ist sich weitgehend darin einig, dass Kluges Fernsehmagazine darauf abzielen, das »Sinnstiftungs-Kombinat Fernsehen« (Kreimeier 2002, 42) mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Tatsächlich ist die Distanz zu den Produktionen der führenden Sender enorm. Verstörend sind die Gespräche nicht nur durch ihren intellektuellen Anspruch und ihre thematische Abseitigkeit, sondern auch durch ihre ästhetische Rahmung. Während der Ton weiterläuft, setzt Kluge Bilder in Szene, die durch Techniken wie visuelle Loops und Fotomontagen verfremdet werden. Zwischentitel verweisen auf die Zeit des Stummfilms, Collagen aus Text, Bild und Ton werden eingeblendet (→ Schulte 2002, 67). Ob man Kluges Magazine goutiert oder nicht: Kaum zu bezweifeln ist, dass sie der kommerziellen Konserve herkömmlicher Fernsehproduktionen künstlerische Konsequenz entgegensetzen.


Aber welche rhetorischen und poetischen Verfahren wendet Kluge an, um seine Inseln des televisionären Eigen- und Gegensinns zu errichten? Um diese Frage zu beantworten, soll im Folgenden der Begriff der Improvisation ins Spiel gebracht werden. Dies beruht auf der Annahme, dass die Fernsehmagazine eine Ästhetik des Unvorhergesehenen inszenieren. Nicht nur für das Programmschema der Privatsender markieren sie einen Moment des Unerwarteten, sondern auch für die Sehgewohnheit des Zuschauers, der sich als nächtlicher Zapper in Kluges Fernseh-Irrgarten verläuft. Und schließlich ist es der Verlauf der Gespräche selbst, der von Abschweifungen und Brüchen gekennzeichnet ist und deshalb immer wieder unvorhergesehene Umwege nimmt.

Es sind Kluges Fragen, die während des Gesprächs permanent Unvorhergesehenes generieren. Ihre Technik besteht in jenem »Unterbrechen der Automatismen«, das Alexander Kluge im Dialog mit Joseph Vogl als grundlegenden Modus jeder Kritik benannt hat (→ Kluge, Vogl 2009, 15). Durch seine Fragen wechselt er plötzlich die Perspektive, unterbricht die Ausführungen seines Gegenübers, um sie in eine andere Richtung, eine andere Sprache zu lenken. Es entsteht ein Sprechen, das im krassen Gegensatz zu den »planvoll getakteten Talk-Sequenzen des übrigen Fernsehens« steht (Schulte 2009). Kluges Fragen verstoßen gegen jede journalistische Interviewregel, sie erzeugen nicht schnell verarbeitbare Informationen, sondern Kontingenzen und Unwägbarkeiten. Wenn heute Fragen »zwangsläufig und vorhersehbar mit einem überschaubaren Bestand an Antworten verkettet sind« und gängige Formate auf dem »Abfragen programmierbarer Antworten« beruhen (Vogl 2007, 119–120), so bricht Kluge dieses eingefahrene Spiel auf, um die »Dinge des Wissens« nicht mehr als etwas »Immer-schon-Gewußtes« erscheinen zu lassen (123). »Was ist das?« »Können Sie das mal beschreiben?« Oft sind es diese einfachen und doch so schweren Fragen, mit denen Kluge sein Gegenüber überrascht. Oder aber mit unvermittelten Einwürfen, die auf scheinbar Nebensächliches zielen: »Schreiben Sie mit einem Stift?«

So sieht sich der Befragte genötigt, die bereits ausgeschrittenen Pfade seines Denkens zu verlassen und Wissen improvisierend zu formulieren. Improvisation ist immer ein paradoxes Verfahren: Es bezeichnet nicht nur die gezielte Provokation von Unvorhergesehenem, sondern auch dessen rhetorische Bewältigung. Kluges Gesprächspartnern ergeht es wie dem Jazz-Musiker, der auf die Bühne geht, um etwas zu spielen, was er noch nie gespielt hat. Ulrike Sprenger, die ebenfalls von Kluge interviewt wurde, beschreibt diese Verschränkung von Invention und Ausführung als »Verfertigung des Gesprächs beim Reden«:

»Alexander Kluge will nicht das Erwartete, sondern wirft einem einfach eine Idee vor, bei der man dann oft auch einfach erst einmal losreden muss, um sich allmählich auf eine überraschende Frage oder einen Vergleich einlassen zu können. Dabei kann man eben gerade nicht auf bereits gehaltene Vorträge oder schon einmal gegebene Antworten zurückgreifen, sondern man gibt neue Antworten, die einen, glaube ich, oft sogar selbst überraschen.« (Sprenger 2007, 9)

Natürlich wird die Tradition der theatralen Improvisation in den Fake-Interviews auch als Genre zitiert: Das Verbot der vorherigen Absprache, das Kluge über seine Gespräche mit Edel, Berling, Schneider verhängt, schafft die für Improvisationen nötige Rahmung. Kluges Einwürfe und Einfälle, mit denen er die Rede seines Gegenübers unterbricht, erinnern an die Zwischenrufe des Publikums, auf die der Improvisator bei seinen Vorführungen reagiert. Aber Improvisation ist nur ein Genre von vielen, auf das Kluges Fernsehmagazine parodistisch anspielen. Auch Gesprächsformen wie Interview, Vernehmung, Verhör, psychoanalytische Sitzung, Unterhaltung, Talk oder Plauderei werden samt der ihnen inhärenten Fragetechniken »fallweise und ironisch herbeizitiert« (Vogl 2007, 120). Die Gattung der Gespräche ist deshalb schwierig zu bestimmen. Joseph Vogl betont, dass es im Dialog mit Kluge »keine verlässliche Regel« dafür gebe, »wie man zu bestimmten Fragen und von diesen Fragen wiederum zu den Antworten gerät« (ebd.). Befindet man sich in einem polizeilichen Verhör oder in einem journalistischen Interview, dann kann man sich auf die Regeln des Formates einlassen und sich entsprechend darauf einstellen. Als Kluges Gesprächspartner ist man dagegen gezwungen, während des Gesprächs zwischen den Gesprächsgattungen zu changieren. Das Fehlen einer eindeutigen Regel der Fragestellung verlangt ebenfalls Improvisation, die deshalb nicht nur als Gattung zitiert wird, sondern auch eine Technik bereitstellt, auf die abrupten Wechsel der Gesprächsführung zu reagieren.


Das Moment der Improvisation beruht in Alexander Kluges Fernsehmagazinen damit im Wesentlichen auf Dialogizität. Es war der Frühromantiker Adam Müller, der darin eine Chance der radikalen Demokratisierung erkannte: Die Interaktion zwischen Publikum und Darsteller erlaube es, die Trennung von Rezipient und Produzent aufzuheben (→ Landgraf 2010, 67–69). Gerade weil Kluge seinem Gegenüber auf Augenhöhe begegnet und mit ihm in einen veritablen Dialog tritt, lassen sich zeitgenössische Interpreten dazu verleiten, in seinen Fernsehmagazinen die Herstellung »demokratischer Öffentlichkeit« am Werk zu sehen, die im Gegensatz zur »populistischen Öffentlichkeit des Mediums« stehe (Seeßlen 2002, 130). Ob man diese emphatische These teilen will oder nicht: Fest steht, dass Kluge sich einer Dialogform bedient, mit der in der Geschichte des Fernsehens bereits experimentiert wurde. Woody Allen war in den Siebzigern mehrmals in der Show seines Freundes Dick Cavett zu Gast und gab dort, angeregt durch sein Gegenüber, Kostproben seines improvisatorischen Talents. Besonders eine Szene weist in ihrer thematischen Abseitigkeit auf Kluges Fernsehmagazine voraus:

»Cavett: The British in India invented a game called Puna.
Allen: Ah, I played it (Lachen im Publikum).
Cavett: Well then, good. Because the question is: Is the game still played and if it’s so, how?
Allen: It requires two consenting adults to play the game (Gelächter). And one is the Puna and one is the Puny (schallendes Gelächter).
Cavett: I don’t know if we need to go on with this or not?
Allen: (fährt fort): You spin on a dial and you can advance two squares if you like. And you have to yell out: Puny! Puny! And then they give you paper money or script as it’s called. And then you smear butter on the person you are playing with and you cite the word ›nutmeg‹ seven times.
Cavett: That’s uncanny!
Allen: Yes. The first one to reach the Punatorium is the winner (Gelächter)

Nicht selten fällt es in Fernsehshows dem Sidekick zu, dem Entertainer den Stoff zuzuspielen, den dieser improvisatorisch verarbeiten muss – bereits das romantische Improvisationstheater kannte einen zweiten Akteur auf der Bühne, der genau diese Rolle erfüllte (→ Esterhammer 2008, 4). Der Erfolg von Harald Schmidt beruhte lange Zeit darauf, dies erkannt zu haben. Der Coup, Manuel Andrack als Sidekick in die Show einzubeziehen, gewann gerade aus der Tatsache seinen Reiz, dass Andrack als permanenter Gesprächspartner nicht nur Schmidts Einfallsproduktion ankurbeln sollte, sondern als Redaktionsleiter auch für die Organisation und Planung zuständig war. Andrack überwachte akribisch die Einhaltung der Abläufe, die Schmidt während der Sendung bewusst unterlief, wodurch er sich als genialer, regelzerstörender Improvisationskünstler in Szene setzen konnte.

Allerdings wird der improvisierte Dialog in Kluges Gesprächen um ein zusätzliches poetisches Verfahren erweitert. Sie stoßen immer wieder an den Punkt, an dem der Dialog in einen Monolog und damit letztlich auch in eine Erzählung, den »Zeitgenossen des Monologs« umschlägt (Barthes 1988, 137). Kluges Einfälle und Einwürfe erzeugen nicht nur Brüche, sondern auch Verbindungen. Oft vervollständigt Kluge einfach nur das, was sein Gegenüber sagt, beide spinnen an einem gemeinsamen narrativen Faden. Exemplarisch wird dies im Gespräch mit Robert Fork/Helge Schneider deutlich, in dem die Gesprächspartner zusammen den Anfang von Schneiders Roman Eine Liebe im Sechsachteltakt wiedergeben: »Zwiebeltürme ragten in den / von Krähen bevölkerten Novemberhimmel«. Aber auch in vielen anderen Gesprächen wird diese Operation deutlich, etwa als sich Kluge und Vogl über die Räuber in Offenbachs Operette Les Brigands unterhalten:

»Vogl: […]. Diese ganze Operette beginnt mit einer leicht düsteren Stimmung, die daher kommt, dass das Gewerbe zu wenig abwirft. Der Räuberhauptmann ist noch ein alter Räuberhauptmann, der ein ausschweifendes Leben mit einem leichten moralischen Defekt verbindet.

Kluge: Ganz Paris wird bebaut, aber die Renditen kommen nur langsam. So viel Miete kann ja gar keiner zahlen. Und so viel wohnen können die Leute gar nicht, wie neue Gebäude errichtet werden.

Vogl: Das Geschäft geht schlecht, und das betrifft in diesem Fall auch das Brigantenwesen. Anderswo verdient man besser und mehr.« (Kluge, Vogl 2009, 68)

Zwei Stimmen werden zu einer Stimme. Die improvisierten Gespräche verlaufen an der Schwelle von dialogischem Reden und Argumentieren auf der einen und monologischem Erzählen auf der anderen Seite. Es verwundert deshalb nicht, dass Material aus den Gesprächen in Kluges Bücher ein- und von diesen wieder in die Gespräche zurückfließt. Kluge begreift Literatur als Fortsetzung des Interviews (→ Seeßlen 2002, 128–129). »Das Interview ist bei Kluge immer auch eine unfertige Skizze, ein unfertiger Entwurf für ein noch nicht geschriebenes Buch«, hält Ulrike Sprenger fest (Sprenger 2007, 11). So gesehen handelt es sich bei den Gesprächen um eine Vorstufe zur Erzählung. In ihnen tritt die Technik des Findens als ein dialogisches und improvisatorisches Moment hervor, das ins Narrative drängt. Die Fernsehmagazine erzeugen ein Produkt, das die Spuren seiner Entstehung sichtbar hält.

Bereits in den Siebzigerjahren hat Kluge in seinen theoretischen Schriften gefordert, dass Filme eine »Gegengeschichte« zum »Real-Roman« der Gesellschaft erzählen sollten. Dies könnten sie aber nur, wenn sie sich »das Unabgeschlossene« auf die Fahne schreiben und einen »offenen Baustellencharakter« behalten würden (Kluge 1999, 132–134). Tatsächlich lassen sich Kluges Fernsehgespräche als Form alternativer Geschichtsschreibung auffassen, nicht zuletzt, weil viele seiner Interviews historisches Geschehen zum Thema haben. In den Fake-Gesprächen wird dieses von fiktiven Zeitzeugen erzählt. Berling und Schneider verkörperten u.a. Hitlers Leibwächter Manfred Pichota, John F. Kennedy Juniors Fluglehrer und den Letzten der Nibelungen. So produzieren die Gespräche einen »histos im alten Sinn, einer der sich selbst als das Material von historia, von Geschichte und Geschichten präsentiert.« Entscheidend dabei ist, dass sich »das berichtete Ereignis und das Ereignis des Berichts« überlagern, Geschichte nicht als ein »Reservat von Daten und Tatsachen«, sondern als »ein im Werden begriffenes Geschehen« präsentiert wird (Vogl 2007, 126). Dieses Unternehmen scheint ein rhetorisches Verfahren zu benötigen, das den improvisatorischen Prozess der Einfallsfindung und -verarbeitung mit dem Erzählen von Geschichte in eins setzt.

Hierfür ein letztes Beispiel: Aus Anlass der Versteigerung von Napoleons Eckzahn im Jahr 2005 spielte Berling – im Hauptberuf Autor historischer Romane – Napoleons Adjutanten Jean Dorfmann. In dieser Rolle spricht er über die Zahnprobleme des Kaisers. Es entsteht ein improvisierter Dialog, der sich buchstäblich mit geschichtlichen Augen-Blicken befasst: Napoleons Ägypten-Feldzug, der Tod Napoleons. Diese werden nun aber mit einer Perspektivverschiebung erzählt: Eingeführt wird ein fiktiver Adjutant, der »aus dem Elysium«, wie es im Vorspann heißt, von den Ereignissen berichtet. Kontrastiert wird dieser Blick mit der Perspektive des Eckzahns, der als intimer Zeuge das historische Geschehen verbürgt und zugleich die Brücke zur Gegenwart schlägt.

»Kluge: Wenig später war der Kaiser gestorben, wurde selber einbalsamiert.
Dorfmann: Den Zahn hatten wir ja, den Zahn hatten wir gerettet. Der konnte auch nicht mehr vergehen, der blieb.
Kluge: Immerhin: An einer sehr intimen Stelle, im Munde, hatte er sozusagen den Kaiser begleitet.
Dorfmann: Ein Leben lang begleitet.
Kluge: In Austerlitz.
Dorfmann: Er hat ihn auch missachtet. Ich meine, es wäre vielleicht nicht dazu gekommen. Er hat sich nie um seinen Zahn gekümmert. Er hat für alles andere etwas gehabt.
Kluge: Treu aber im Fleisch saß der Zahn. Und auch in Moskau, im Winter, wurde er mittransportiert. Er saß warm.
Dorfmann: Aber er wurde von seiner Majestät eigentlich misshandelt. Er hätte früher etwas für den Zahn tun können.
Kluge: Putzen, oder was?
Dorfmann: Ja, natürlich.
Kluge: Nicht drauf beißen.
Dorfmann: Vor allem einmal Mundhygiene. Aber er hat seinen Mund natürlich nicht …
Kluge: … keine Zeit …
Dorfmann: … als Hygieneplatz betrachtet, sondern als Platz, wo Worte entstehen und ausgesprochen werden.
Kluge: Sonst hat er sich wunderbar gewaschen.Dorfmann: Ja, also …
Kluge: Ein sehr sauberer Mensch, Füße immer gewaschen, an den Geschlechtsteilen, immer.
Dorfmann: Alles wahr. Aber hat seinen Mund missachtet, er hat nicht daran gedacht, dass dort auch …Kluge: Verlautbarungsorgan.
Dorfmann: … dass dort auch Details sind eben wie Zähne, die man eben besonders pflegen muss.
Kluge: Wie sprach der Kaiser? Einerseits konnte er doch sehr leise sprechen, wenn er diktierte.
Dorfmann: Ja, aber wenn er an die Leute sprach, hatte er eine dröhnende, weittragende Stimme. Er konnte also …
Kluge: Napoleon, genannt der Lautsprecher.
Dorfmann: Trotz seines nicht so stattlichen Wuchses hatte er ein ungeheures Brustorgan.
Kluge: Ja, kann man sagen.
Dorfmann: Eine Röhre.
Kluge: Er konnte die Luft sozusagen …
Dorfmann: … richtig röhren, ja.
Kluge: ›Soldaten, auf euch blicken viertausend Jahre herab von diesen Pyramiden‹.
Dorfmann: Ja, natürlich.
Kluge: Können viertausend Jahre überhaupt blicken. Haben die Augen?
Dorfmann: Ja. Ja.
Kluge: Würden Sie das schon sagen?
Dorfmann: Ja. Wenn Sie wollen …
Kluge: Im Gleichnis.
Dorfmann: Ach, alles ist Gleichnis. Ich meine …
Kluge: Wären die wie ein Auge, so wie auf dem amerikanischen Dollar?
Dorfmann: Nein. Jede Schicht der Pyramide sind tausende von Augen. Es ist nicht ein Auge, sondern viertausend.
Kluge: Da blicken sechstausend Soldatenaugen in die Richtung, in die Napoleon weist.
Dorfmann: Ja.
Kluge: Und von dort aus blicken die Pyramidensteine zurück.
Dorfmann: Ja.
Kluge: So nahe ist nichts sonst, dem Kaiser, wie seine Zähne. Das kann man so sagen.
Dorfmann: Ja, kann man sagen.
Kluge: Keiner seiner Kameraden stand ihm so nahe. Und dieses intime Stück, der obere Eckzahn, wurde jetzt gerettet.«

Literatur

— Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988.

— Esterhammer, Angela: Romanticism and Improvisation 17501850, Cambridge 2008.

— Hickethier, Knut: »Von anderen Erfahrungen in der Fernsehöffentlichkeit. Alexander Kluges Kulturmagazine und die Fernsehgeschichte«, in: Christian Schulte und Winfried Siebers (Hg.): Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main 2002, S. 195–219.

— Kluge, Alexander: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. von Christian Schulte, Berlin 1999.

— Kluge, Alexander: Facts & Fakes. Fernseh-Nachschriften. Bd. 1–5, hg. von Christian Schulte und Reinald Grußmann, Berlin 2000ff.

— Kluge, Alexander und Joseph Vogl: Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich 2009.

— Kreimeier, Klaus: »›Das Seiende im Ganzen aber steuert der Blitz‹. Anmerkungen zu Alexander Kluges Magazinen«, in: Christian Schulte und Winfried Siebers (Hg.): Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main 2002, S. 39–51.

— Landgraf, Edgar: »Eine wirklich transzendentale Buffonerie. Improvisation und Improvisationstheater im Kontext der frühromantischen Poetologie«, in: Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld 2010, S. 65–94.

— Lutze, Peter C.: »Alexander Kluge und das Projekt der Moderne«, in: Christian Schulte und Winfried Siebers (Hg.): Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main 2002, S. 11–38.

— Schneider, Helge: Eine Liebe im Sechsachteltakt. Der große abgeschlossene Schicksalsroman von Robert Fork, Köln 2008.

— Schulte, Christian: »Fernsehen und Eigensinn«, in: Christian Schulte und Winfried Siebers (Hg.): Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main 2002, S. 65–81.

— Schulte, Christian: »Rezension über: Alexander Kluge und Joseph Vogl: ›Soll und Haben. Fernsehgespräche‹«, in: rezens.tfm. e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen 2 (2009), http://rezenstfm.univie.ac.at/rezens.php?action=rezension&rez_id=75 (aufgerufen: 22.4.2014).

— Seeßlen, Georg: »Interview/Technik oder Archäologie des zukünftigen Wissens. Anmerkungen zu den TV-Interviews Alexander Kluges«, in: Christian Schulte und Winfried Siebers (Hg.): Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main 2002, S. 128–137.

— Sprenger, Ulrike: »Lebte die kleine Meerjungfrau wirklich? Facts und Fakes im Märchen – Alexander Kluge zum 75. Geburtstag«, in: Maske und Kothurn 53 (2007), Heft 1, S. 9–20.

— Vogl, Joseph: »Kluges Fragen«, in: Maske und Kothurn 53 (2007), Heft 1, S. 119–128.

Weblinks

— Homepage von Alexander Kluge: http://www.kluge-alexander.de (aufgerufen: 22.4.2014).

— Helge Schneider als Robert Fork: http://www.youtube.com/watch?v=sa1vm0DCl_Y (aufgerufen: 22.4.2014).

— Peter Berling als Jean Dorfmann: http://www.youtube.com/watch?v=FfFSMqU3EDM (aufgerufen: 22.4.2014).

— Woody Allen und Dick Cavett: http://video.pbs.org/video/2167349775/ (aufgerufen: 22.4.2014).


Transkriptionen der Gespräche Alexander Kluges mit Helge Schneider und Peter Berling sowie des Gesprächs Woody Allens mit Dick Cavetts nach den hier genannten Aufzeichnungen.

  • invention
  • paternité littéraire
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Sandro Zanetti (éd.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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