Neo-Phantastik par excellence

Bruce Bégout

Der marxistische Milliardär

in: Sphex. Krankhafte Phantasien, p. 11 – 18

In der zweiten Hälfte seines Lebens, eines Lebens, das an ­sonderbaren Ereignissen und kostspieligen Launen bereits reich war, beschloss ein Milliardär, sein gewaltiges Vermögen einem extravaganten Projekt zu widmen: das Werk von Karl Marx vollkommen zum Verschwinden zu bringen. Er vernach­lässigte die Yachten, die Gala-Soireen, die Paläste, die Callgirls, die Bentleys, die Privatjets, die Großwildjagden, die ­Sterne-Restaurants, die einsamen Inseln, um sich ausschließlich der Entmarxisierung der Welt zu widmen. Zu diesem Zweck verpflichtete er Hunderte von Helfern, die er sowohl aus den renommiertesten Kanzleien als auch der Mafia der Verbrecherviertel rekrutiert hatte, die aber alle bereit waren, sich der systematischen Zerstörung der Bücher des Theoretikers der proletarischen Revolution zu widmen. Mit ihrer Hilfe ging er wie folgt vor: Er kaufte die Autorenrechte zurück sowie sämtliche verfügbaren Lagerexemplare, sämtliche Bibliotheksbestände sowie alle Exemplare im Besitz von Privatleuten (das Internet und die Digitalisierung der Datenbanken leisteten dabei gute Dienste). Anschließend erwarb er zu Phantasiepreisen die Originalmanuskripte und ließ sie verbrennen. Es gelang ihm, den Namen Marx als Warenzeichen eintragen zu lassen. Allen, die ihn benutzten, drohte er mit Prozessen, er zerstörte mehrere öffentliche Archive in diversen Ländern, desgleichen Forschungszentren, Zeitschriften, Gesellschaften, Splitter­parteien, das Geburtshaus, die alten Ausgaben, die Gedenktafeln, die Bilder, die Reliquien. Nach ein paar Jahren war kein Text von Marx mehr verfügbar, nicht einmal online, wo ein elektronischer Virus, den auszuschalten niemandem gelang, noch den geringsten marxistischen Satz systematisch zerstörte. All das kostete viel Geld, immense Anstrengungen, Vorsichtsmaßnahmen, Planungen, schlaflose Nächte, Telefonate, E-Mails. Eine regelrechte Armee war auf die Beine gestellt worden, um jede Spur des Werks von Marx auf dieser Erde aufzuspüren und unverzüglich zu eliminieren. Getilgt werden musste auch jedes Zitat aus den Werken von Marx in Kritik und Sekundärliteratur, was ebenfalls zu neuen Recherchen, neuen Käufen, neuen Einschüchterungen, neuen Verstümmelungen, neuen ­Autodafés, kurz zu einem gigantischen Buchvernichtungs-unternehmen führte. Auch verschwanden mehrere akademische Mandarine, ohne dass man eigentlich wusste, was aus ihnen wurde, und kein junger Forscher wollte noch über einen Autor arbeiten, der im Lauf von wenigen Jahren verfemt worden war. Sicherlich regte sich weltweit Empörung, wurden Dossiers erstellt und Enquêten durch­geführt, erhoben sich Schreie der Wut und Verzweiflung, Seufzer, Bedauern, aber keine Spur wurde aufgedeckt, kein Beweis fand sich und niemand wurde festgenommen. 


Sodann tat der Milliardär den nächsten Schritt und trat in das ein, was er die Phase B seines Plans nannte. Auch die Erinne­rung an Marx sollte vollständig aus der Welt verschwinden, niemand sollte...

  • marxisme
  • fiction

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Bruce Bégout: Sphex

Bruce Bégout

Sphex
Krankhafte Phantasien

Traduit par Heinz Jatho

broché, 256 pages

In siebenunddreißig giftigen Mikro-Fiktionen erweist sich Bruce Bégout als Spezialist für den Horror des Alltäglichen, als kalter Sezierer unguter Seltsamkeiten. Was man nicht mehr sieht und spürt, was uns aber maximal bestimmt und überwölbt, wird binnen weniger Sätze zum Protagonisten der Handlung und bringt auf drei, vier Seiten wie beiläufig die Welt zum Kippen. Vor dem Hintergrund postindustrieller Nicht-Orte, den Gewerbegebieten, Altenheimen, Autobahnen, Möbelhäusern, Baustellen und Seelenlandschaften unserer Zeit laboriert ein menschlich-allzumenschliches Personal an seinen ganz und gar zeitgenössischen, will sagen: so beliebigen wie zwanghaften Obsessionen. Bégouts »krankhafte Fantasien«, eines David Cronenberg und J.G. Ballard ebenbürtig, sind geformt an jenem »Spleen de Paris« Charles Baudelaires, der dem Ennui des 19. Jahrhunderts seine Figuren und Szenen gab. Im grellen Licht dieser Prosa zeichnet sich ab, was Literatur – jenseits des so sorgsam unterhaltenen Identifikationsangebots – gegenwärtig einzufordern im Stande ist.