»Fragilität ist die einzige Sache, die ich wirklich über mich weiß«
Traduit par Nils Plath
PDF, 5 pages
Ich bin keine besonders ausgeglichene Person. Ich bin fragil und traurig – ähnlich wie es Claude Lévi-Strauss in Traurige Tropen beschreibt. Ich fühle diese beiden Eigenschaften, ich bin mit ihnen aufgewachsen. Bereits in frühesten Kindertagen war ich mir meiner Fragilität bewusst – als Kleinkind, das Laufen lernte, irgendwo in Afrika lebte und bereits wahrnahm, dass dort die Zahl der weißen Menschen verglichen mit der der schwarzen viel geringer war, und dem darüber hinaus auffiel, dass die meisten dieser schwarzen Menschen um mich herum Gärtner oder Hausmädchen waren. Schon in meinen ersten Lebensjahren empfand ich – und ich bin mir ganz sicher, dass ich mich nicht täusche – kein Ungerechtigkeitsgefühl, sondern eine Art Schuld.
Weshalb Schuld? Meine Eltern waren umgängliche Leute, die jeden gut behandelten. Mein Vater war sehr darum bemüht, Sprachen zu erlernen. Er beherrschte mehrere afrikanische Sprachen sehr gut ebenso wie Pidgin-Englisch, das er mit seinen Kindern sprach. Pidgin-Englisch lernte ich beinahe früher als Französisch. Ich kann also behaupten, eine gute Bildung genossen zu haben, und es war mein Glück, dass ich weit entfernt von Frankreich erzogen wurde – auf diese Weise lernte ich unterschiedliche Kulturen kennen und hatte unterschiedliche Nachbarn. Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich im muslimischen Teil im Norden Kameruns, wo es keine Kirchen gab, keine Christen, und wo die einzige Religion der Islam war. Mein Vater kam damit gut zurecht, dennoch hielten wir im Garten ein Hausschwein. Das war für unsere Familienessen gedacht, normalerweise aßen wir Hammelfleisch oder Huhn. Statt mich aber stark wie eine Entdeckerin oder eine Reisende zu fühlen, lebte ich zwischen zwei Welten. In der einen Welt war ich glücklich – in jener, die aus den Gegenden bestand, in denen ich aufwuchs: dem Norden Kameruns, dem Süden Kameruns, Djibouti und anderen Orten. Und während der Ferien wohnte ich manchmal für einen oder zwei Monate bei meinen Großeltern in Frankreich, wo ich mir völlig fremd vorkam, obwohl ich bemerkte dorthin zu gehören – wegen meiner Hautfarbe und den Ähnlichkeiten zwischen mir und den Menschen, die mich umgaben. Doch ich registrierte auch kulturelle Differenzen. So gab es dort beispielsweise jeden Tag Käse, woran ich nicht gewöhnt war. Ich wuchs also mit dieser Fragilität und in gewisser Weise auch mit einer Art Traurigkeit auf.
Als ich zum ersten Mal Traurige Tropen las, empfand ich eine sofortige Abneigung gegen Lévi-Strauss. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass ihn ja niemand darum gebeten hat, so weit in die Ferne zu reisen – beim nochmaligen Lesen konnte ich seine Intention besser nachvollziehen, doch das war meine erste Reaktion. Nebenbei, da ich hier Traurige Tropen erwähne: Meine Mutter ist brasilianischer Herkunft, vor vierhundert Jahren lebten ihre Vorfahren in Amazonien und taten so, als seien sie echte Portugiesen, obwohl es sich bei fast allen von ihnen um Indianer oder Schwarze handelte. Ihr Bestehen darauf, echte Portugiesen zu sein, ist ziemlich seltsam. Das hat etwas so Trauriges und Fragiles, dass mich das sehr gut beschreibt.
Die Frage nach fragilen Identitäten ist für mich dementsprechend zuallererst eine Reise in mein eigenes Inneres – meine Identitäten, meine Identität, mich, mein gesamtes Leben, mein Alltag –, ob ich nun an einem Film arbeite oder verzweifelt darüber bin, nicht zu arbeiten, da das Drehbuch zu schlecht ist oder ich nicht schreiben kann. Es ist eine Art Kampf zwischen mir und der, die ich bin. Ich kümmere mich nicht um politische Korrektheit. Es geht um etwas zwischen mir und mir, und dieser Weg geht tief ins Innere. Als ich als Studentin zum ersten Mal Frantz Fanons Buch Schwarze Haut, weiße Masken las, wurde mir erstmals bewusst, dass es da einen zu bereisenden Raum gibt – er kann noch so klein sein –, in dem ich keine wahrhafte Identität, sondern vielmehr jemanden in mir finde, dem ich vertrauen kann und der angemessene Filme zu machen versteht – keine anekdotischen Filme, keine humanistischen Filme, keine Filme, die voll von Gönnerhaftigkeit sind. Solche Dinge interessieren mich nicht, ich will wahre Filme machen und dafür muss ich herausbekommen, wo meine Fragilität liegt.
In meiner Antwort möchte ich auf Okwui Enwezors Frage zur Feindseligkeit und Gastfreundschaft [hostility and hospitality] zurückkommen – vor allem bei dem Wort Gastfreundschaft klingelt es bei mir. Im Jahr 1996 hatte der französische Staat Probleme mit den Einwanderungsgesetzen, denn diese mussten den Regelungen der EU angepasst werden. Die französischen Gesetze änderten sich so schnell, dass es beinahe unmöglich wurde, ›Gastfreundschafts-Papiere‹ [a hospitality-card] zu bekommen, Aufenthaltspapiere zu erhalten. Die Zeitungen berichteten von Charterflugzeugen, mit denen Men-schen in Handschellen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht wurden, und von ähnlich schlimmen Vorkommnissen. Eine Reihe von Filmemachern und Filmemacherinnen – die untereinander nicht befreundet waren, sondern miteinander durch Telefon und Fax in Kontakt standen, vielleicht fünfzehn oder zwanzig von uns – verfassten eine Petition an die Regierung, in der sie fragten: »Welchen Stellenwert hat das Recht auf Gastfreundschaft in Frankreich? Wo findet man diese Rechte auf Gastfreundschaft in unserem Bildungswesen?« Es war eine Anfrage an die Regierung, die dann ganz plötzlich zu einer größeren Sache wurde, als wir erwartet hatten. Viele andere unterschrieben die Petition. Wir wurden eingeladen, um im Fernsehen extrem rechts-gerichteten Politikern die Stirn zu bieten. Wir hatten geglaubt, wir seien erfahren genug, im Fernsehen zu sprechen, waren es aber eigentlich doch nicht. Alles war hoch emotional und zugleich sehr befremdend, und Jacques Derrida schrieb einen schonungslosen Artikel über das Gesetz der Gastfreundschaft, der dann zu einer Grundlage für unsere weiteren Diskussionen wurde. In diesem Text bittet er einen anderen französischen Philosophen, Jean-Luc Nancy, sich der Gruppe der Aktivisten anzuschließen. Jean-Luc Nancy hatte zu dem Zeitpunkt lange geschwiegen, er war schwer krank gewesen, er hatte eine Herztransplantation hinter sich. Über viele Jahre hatte Jacques Derrida ihn – als Philosophen – immer wieder gebeten, darüber zu schreiben, was es für ihn bedeute, ein transplantiertes Herz zu haben. Aber Jean-Luc Nancy hatte dies immer abgelehnt. Er sagte: »Nein, ich habe dazu nichts zu sagen. Es ist so persönlich, es ist so schmerzhaft, bitte mich nicht darum!« Als er dann aber von Jacques Derrida aufgefordert wurde, etwas über das Gesetz der Gastfreundschaft zu schreiben, gab Nancy seinem nächsten Text, seiner Antwort auf Derrida, den Titel L’Intrus (Der Eindringling), wie in William Faulkners Roman Intruder in the Dust. Der Eindringling in der ländlichen Gegend von William Faulkners Roman ist ein Farmer. Er sieht weiß aus, doch der Besitzer des Landes weiß, dass etwas afrikanisches Blut in dessen Adern fließt. Er weiß auch, dass ihm die Farm vom ehemaligen Herren überschrieben wurde, dass er selbst aber nicht weiß ist. Jean-Luc Nancy kannte William Faulkners Roman seinerzeit übrigens nicht, der Begriff »Eindringling« kam ihm einfach so. Nachdem er zu schreiben angefangen hatte, wurde ihm nach ein oder zwei Sätzen bewusst, dass er eigentlich seine eigene Erfahrung mit dem Erhalt eines neuen Herzens beschrieb, ohne dabei natürlich zu wissen, wessen Herz es war. Alles, was er wusste, war, dass das Herz jemandem gehört hatte, der kurz vorher gestorben war, und so konfrontierte er sich mit der Frage: »Könnte es das Herz einer schwarzen Frau sein?« Er wusste, dass viele Männer vor der Narkose den Chirurgen anflehen: »Bitte, bitte, schwören Sie bei Gott, dass es nicht das Herz einer Frau ist. Ich will mit Sicherheit wissen, dass es sich um das Herz eines Mannes handelt, denn ich könnte nicht als Mann mit dem Herz einer Frau leben.« Woraufhin der Chirurg zur Antwort gibt: »Es ist nur eine Pumpe, das Herz ist kein kompliziertes Ding. Es ist nur eine Pumpe. Für uns Chirurgen ist diese Operation ein Kinderspiel. Es ist nicht schwieriger als die Arbeit eines Automechanikers. Nur keine Angst.« Mittlerweile ist es sogar möglich, dem Menschen Schweineherzen einzupflanzen, was wieder ein
anderes Problem mit sich bringt.
Nancy begann also die Arbeit an seinem Buch Der Eindringling – einem dünnen Buch von nicht mehr als dreißig Seiten – und beschrieb darin, wie er mit der Zeit durch den Eingriff, den Eindringling körperlich verändert wurde. Ich habe mit ihm einen Kurzfilm über diesen Verlauf gedreht und danach einen Spielfilm. Als erstes aber fragte ich ihn nach der Macht des Wortes Eindringling: »Läuft das Eindringen nicht parallel zu dem Gesetz der Gastfreundschaft? Es gibt Gastfreundschaft und die Reaktion darauf ist das Eindringen?« Daraufhin antwortete mir Jean-Luc Nancy: »Ja, aber das ist genau, was ich meine. Das Gesetz der Gastfreundschaft existiert nur, wenn es ein Eindringen gibt, wenn ein Eindringling den Raum betritt. Wenn es sich um die Katze, deinen Nachbarn oder Bruder handelt, muss man nicht sogleich das Recht auf Gastfreundschaft anrufen. In dem Fall muss man noch nicht einmal Hallo sagen. Ein Eindringen ist allerdings niemals etwas Sanftes, ist niemals einfach, deswegen gibt es das Gesetz der Gastfreundschaft. Eindringen ist immer ein störender Akt, sonst handelte es sich nicht um ein Eindringen.« Diese Antwort begeisterte mich, als sei sie die Antwort auf alles. Beim Sex beispielsweise gibt es Akte des Eindringens, die nicht nur behutsam
sind, und mir kam der Gedanke, dass Gesetze wie auch Tabus erfunden wurden, um uns vor Furcht, Schrecken und Abneigung zu schützen.
In seinem Buch beschreibt Nancy die Situation, dass der Körper nach Erhalt des neuen Organs, das ihm das Leben gerettet hat und atmen lässt, das neue Herz ablehnt. Das nennt man eine Abstoßung und ist medizinisch nicht ungewöhnlich, denn das Immunsystem geht im gesamten Körper auf Abwehr und stößt den Retter ab: »Nein, das gehört nicht zu mir.« Darum muss man Medikamente nehmen, die vor dreißig Jahren entwickelt wurden. Sie schwächen das Immunsystem und machen einen fragiler. Einerseits ist man aufgrund des geschwächten Immunsystems also nicht mehr so stark wie vorher, andererseits kann der Körper den Eindringling nach und nach annehmen. Es war für mich ein Glück, die beiden Texte in jenen Jahren gelesen zu haben: den einen, in dem es um die Gastfreundschaft geht, und den anderen, der vom Eindringen als einem absolut entsprechenden Vorgang handelt. Das Problem erfordert auch einen körperlichen Prozess. Man kann sich von einem Sittenkodex leiten lassen, man kann ein guter Mensch sein, aber es gibt einen Moment, in dem Fragilität wichtig wird. Und es gibt einen Zustand der Stärke, einen Zustand, in dem man jedes Eindringen, das einen in bestimmter Weise schwächt, zurückweisen kann. Das war es, was mir zu sagen einfiel, als Okwui Enwezor über die Gesetze der Gastfreundschaft und das Eindringen sprach, ein für mich sehr wichtiger Aspekt, den ich in meinen Filmen so gut wie möglich darzustellen versucht habe.
Um zum Schluss zu kommen: Ich bin der Ansicht, die Entdeckung, die erste Reise muss ins eigene Innere führen, um den Punkt zu finden, wo ich zerbrechlich bin, wo ich berührt werden kann, wo Verbindung möglich ist. Letzte Woche war ich in Goa, in Indien, heute bin ich hier – das Flugzeug brachte mich dorthin und ich versuche das zu verstehen, aber das ist kein aufrichtiger Versuch einer Selbstbefragung. Hier, als heutiges Ich, muss ich mich bemühen zu verstehen, warum ich die Einladung angenommen habe, etwas über Fragile Identitäten zu sagen. Wenn mich jemand auf der Straße fragen würde, worin meine Identität besteht, könnte ich ihm nicht anders entgegen, als ihm meine Papiere zu zeigen. Fragilität ist die einzige Sache, die ich wirklich über mich weiß.
Wie ist es um die Subjektformen der Gegenwart und wie ist es um deren Selbst-Verständnis bestellt? In künstlerischen Arbeiten und wissenschaftlichen Theorien treten immer häufiger ›fragile Identitäten‹ in den Vordergrund. Sie erscheinen als Kritiken am Begriff der Identität selbst, verweisen aber vor allem auf den prekären Zustand von Subjektformen im fortgeschrittenen Kapitalismus und in aktuellen politischen Umbruchsituationen. Anknüpfend hieran lotet der Band Chancen und Gefährdungen des fragilen Selbst aus und fragt nach der Dringlichkeit eines neuen Konzepts von Subjektivität. Die Publikation ist Ergebnis des zweiten Jahresprogramms des cx centrum für interdisziplinäre studien an der Akademie der Bildenden Künste München.