Meine langjährige Beschäftigung mit dem Projekt der nomadischen Subjektivität basiert auf einer spezifischen Kartografie unserer globalisierten Zeit, die durch weitreichende, technologisch verursachte Transformationen unserer gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Welten gekennzeichnet ist. Ich gehe davon aus, dass aufgrund dieser Umbrüche traditionelle Formen der Selbstdarstellung, vertraute kulturelle Bezugspunkte und uralte Denkgewohnheiten neu zusammengesetzt werden – allerdings auf widersprüchliche Art und Weise.
Unser geschichtlicher Kontext ist geprägt durch die schizoide Struktur des technologiegetriebenen, fortgeschrittenen Kapitalismus, wie ihn Deleuze und Guattari auf einleuchtende Weise beschrieben haben.
Ein Beispiel für die nichtlineare und immanent widersprüchliche Funktionsweise dieses Systems ist die große Akkumulation von Reichtum begleitet von wachsenden Ungleichheiten des Einkommens, des Wohlergehens und des Zugangs zu genau den Technologien, die unsere Wirtschaft aufrechterhalten. Ein anderes Beispiel ist das Paradoxon einer globalen Ökonomie, die durch ein dichtes Netzwerk aus Kapitalströmen und mobilen Arbeitskräften verbunden ist, welches über verschiedene Formen und Geschwindigkeiten dieser Mobilität, darunter interne und externe Migrationsflüsse, funktioniert. In sozioökonomischer Hinsicht äußert sich dieses System in der sogenannten Flexibilität eines großen Teils der Erwerbstätigen. Befristete und jederzeit kündbare Beschäftigungen, Teilzeit-, Niedrig- und Niedrigstlohnarbeit sind in den meisten fortgeschrittenen, liberalen Ökonomien zur Norm geworden. Die Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind bei Weitem nicht gegen diese Fragmentierung und diesen ausbeuterischen Zugriff gefeit. Diese negative und ausbeuterische Version kapitalistischer Flexibilität führt zur Unterbrechung lebenslanger Karrieren und Berufe und bietet im Gegenzug kaum Kompensation.
Prekäre Arbeitsbedingungen führen zu sozialer Instabilität, zu Bürgerinnen und Bürgern im Zustand des Übergangs, zu provisorischen Behausungen und gewaltsamer Vertreibung. Die Globalisierung stellt die Hegemonie der Nationalstaaten und ihren Anspruch auf exklusive Staatsbürgerschaft infrage, während sie gleichzeitig deren Zugriff auf das Territorium, die kulturelle Identität und die gesellschaftliche Kontrolle verstärkt. Darüber hinaus erzeugt sie eine weltweite politische Ökonomie »zerstreuter Hegemonien«. Der fortgeschrittene Kapitalismus ist eine Überwachungsgesellschaft, die eine an die Annehmlichkeiten des Konsums gekoppelte komplexe politische Ökonomie der Angst installiert. Regiert wird mittels Angst und gesteigerter Sicherheit nicht nur zwischen den geopolitischen Blöcken, die nach dem Ende des Kalten Kriegs entstanden sind, sondern ebenso innerhalb dieser Blöcke. Paradoxerweise werden die alten Machtverhältnisse nicht nur bestätigt, sondern im neuen geopolitischen Kontext sogar auf vielfältige Weise verschärft.
Zentral verankert in den globalen Metropolen, die als Organisationsprinzipien der Hierarchisierung und Verteilung von Wohlstand fungieren, arbeitet die globalisierte Netzwerkgesellschaft mittels kontrollierter Mobilität. Waren und Daten zirkulieren wesentlich freier als menschliche Subjekte oder als Subjekte, die teilweise kaum noch als menschlich wahrgenommen werden und den Großteil der Asylsuchenden und illegalen Bewohner_innen der Welt ausmachen. Eine zur Ware gewordene Form des Pluralismus ist die kapitalistische Variante des sich heute ausbreitenden opportunistischen Nomadentums. Die dichte Materialität der Körper, gefangen in den sehr konkreten Verhältnissen der fortgeschrittenen globalen Gesellschaften, steht in eklatantem Widerspruch zu dem Anspruch des fortgeschrittenen Kapitalismus, immateriell, fließend oder virtuell zu sein. Um mit Deleuze zu sprechen sind diese Unterschiede in den Formen der Mobilität und Zirkulation nicht qualitative, sondern quantitative und ändern als solche nichts an der Macht des dominanten Subjekts. Die Zentren erweitern sich in der Tat auf eine zerstreute Weise, doch dabei verlieren sie nichts von ihrer Herrschaftsmacht. Daher ist es notwendig, sich weltumfassend der unkritischen Reproduktion von Gleichheit zu widersetzen.
Die frei verfügbaren Körper von Frauen, Jugendlichen und anderen Menschen, die durch Rasse, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Einkommen markiert und marginalisiert werden, sind besonders gewaltsam in dieses schizoide Machtregime eingeschrieben. Sie erleben die Enteignung ihres Selbst, verkörpert und eingebettet in eine politische Ökonomie permanenter und strukturell erzwungener Mobilität. In die Sprache des philosophischen Nomadentums übersetzt bilden die globalen Städte und die Flüchtlingscamps keine dialektischen oder moralischen Gegensätze. Sie sind zwei Seiten derselben globalen Medaille, wie uns Agamben erinnert. Sie sind Ausdruck unserer gegenwärtigen schizoiden politischen Ökonomie. Massive Konzentrationen von Infrastrukturen existieren neben der komplexen, weltweiten Verteilung von Gütern.
Die technologiegetriebene fortschrittliche Kultur, die sich mit dem Begriff Informationsgesellschaft brüstet, ist in Wirklichkeit eine konkrete materielle Infrastruktur, die sich auf die ortsgebundene globale Stadt konzentriert. Der Kontrast zwischen einer Ideologie der freien Mobilität und der Realität verfügbarer Anderer unterstreicht den schizophrenen Charakter des fortgeschrittenen Kapitalismus. Es han-delt sich um das Paradox zwischen einer hochrangigen Mobilität der Kapitalströme in manchen Sektoren der wirtschaftlichen Eliten und dem hohen Grad an Zentralisierung und Immobilität eines Großteils der Bevölkerung. Vandana Shiva weist darauf hin, dass wir innerhalb der Globalisierung zwischen verschiedenen Modi der Mobilität unterscheiden müssen. »Eine Gruppe ist weltweit mobil, zu ihrem Besitz zählt nicht ein Land, eine Heimat, sondern die ganze Welt, während die andere Gruppe sogar die Mobilität innerhalb des Orts, an dem sie verwurzelt ist, verloren hat und in Flüchtlingslagern, Umsiedlungskolonien und Reservaten lebt.«
Unsere Aufgabe als kritische Intellektuelle ist es, eine geeignete Kartografie der sich verschiebenden Linien der Segmentierung und Rassifizierung der globalisierten Welt und ihres Arbeitsmarkts zu erstellen. Dieser Prozess lässt sich nicht von der Genderisierung und Sexualisierung eben dieses Markts trennen. Es geht der nomadischen Subjektivität darum, Fluchtlinien zu bestimmen, das heißt einen kreativen, alternativen Raum des Werdens, der nicht nur zwischen der Unterscheidung mobil/immobil, Einheimische/Fremde liegen würde, sondern auch innerhalb all dieser Kategorien. Es geht weder darum, den Status der deterritorialisierten Marginalität, des fremden Anderen abzulehnen noch ihn zu verherrlichen, sondern darum, die unterschiedlichen Orte präziser und komplexer zu erfassen und sie mit den Kartografien der Macht zu verbinden mit dem Ziel, die tatsächlichen Bedingungen ihrer Spezifizierung und unserer politischen Interaktion zu transformieren. Wir brauchen neue Allianzen und Gefüge [assemblages].
Die durch das perverse Nomadentum des fortgeschrittenen Kapitalismus hervorgebrachten strukturellen Ungleichheiten verkomplizieren und definieren zugleich die Aufgaben der Gesellschafts- und Kulturkritik. Sie erfordern historisch fundiertere und feinere Kartografien der Machtverhältnisse, die die grundlegenden Machtunterschiede in der Kategorisierung menschlicher und nicht-menschlicher Bewegter und Beweger hervorheben. Eine solche Aufgabe verlangt mehr begrifflichen Erfindungsreichtum und theoretischen Mut, damit unsere historische Bedingtheit adäquat interpretiert werden kann: Wir müssen lernen, anders über die Art von Subjekten, die wir bereits geworden sind, zu denken – sowohl vom Zentrum wie von den Rändern aus –, und über die Prozesse der tiefgreifenden Transformation zu reflektieren, der wir unterliegen.
Das Schreiben ergibt sich aus diesem kartografischen Imperativ als ei-ne Strategie des Widerstands. »[D]er Macht die Wahrheit zu sagen«beginnt – wie Edward Said uns gezeigt hat – damit, die strukturelle Macht der Sprache selbst zu kritisieren. In philosophischer Hinsicht bezieht sich dies auf ein Axiom des Poststrukturalismus: auf die Spezifität der Sprache als die konstitutive Struktur menschlicher Subjektivität. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Sprache nicht nur (oder nicht einmal) ein Werkzeug der Kommunikation, sondern ein ontologischer Ort der Konstitution unserer gemeinsamen Humanität.In diesem Sinne, und ausgehend von der Annahme eines fundamentalen Isomorphismus zwischen der geistigen und gesellschaftlichen Sphäre, vertrat Jacques Lacan in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die These, dass die Sprache die symbolischen Gesetze beinhaltet und aus diesem Grund die politische Ontologie unserer Kultur strukturiert. Derrida, Irigaray und Deleuze entwickelten eine soziale und politische Philosophie, die von der scheinbar einfachen Erkenntnis ausging, dass die Beziehung zu Anderen, vermittelt durch gesellschaftlich-symbolische Strukturen, das definierende Merkmal aller Subjekte und unserer gemeinsamen Humanität ist. Von da an trennen sich ihre Wege hinsichtlich der textlichen Methoden und politischen Strategien. Mit Stil bezeichnen wir diese taktischen Entscheidungen, die letztendlich zwischen zwei grundlegenden und sich oft überschneidenden Optionen getroffen werden: Widerstand und Ethik.
Was Widerstand betrifft, so besteht angesichts des Zwangscharakters der Sprache die Aufgabe der Schreibenden darin, der Anziehungskraft des Herrensignifikanten zu widerstehen und gegen ihn zu opponieren. Seine Macht ausmanövrierend, wendet die/der Schreibende Tricks an (im Stile von Gilles Deleuze), decodiert (wie Michel Foucault), enthüllt (Jacques Derrida) oder verführt (Roland Barthes) die Sprache in Richtungen, für die sie nicht programmiert war. Schreiben, um den Herrensignifikanten ins Wanken zu bringen (Foucault) und stottern zu lassen (Deleuze), seinen Drang nach Beherrschung bloßzulegen (Derrida) und seinen affektiven Kern zu entlarven (Barthes) – das sind Varianten, den despotischen Griff der Sprache auf den Prozess der Subjektformation zu lockern.
Die wirkliche Herausforderung besteht darin, die Macht des Diskurses bei der Produktion von Subjektivität, Wissen und Bedeutung aufzudecken. Indem die zwanghaften und ziemlich despotischen Tendenzen der Sprache aufgezeigt werden, veranlasst der/die Schreibende die Leser_innen, über die Wirkungsweisen der Macht selbst zu reflektieren. Diese Kritik bezieht sich auch auf die Institutionen, die die Macht aufrecht erhalten und fortschreiben, insbesondere die universitäre Struktur der Fachbereiche, Institute, Fakultäten und der gesamten hierarchischen, disziplinierenden Maschinerie, die sich in Fachzeitschriften, Zitatindexen und im Karrieremanagement fortsetzt. Die Ethik umgeht den Teufelskreis der Sprache auf andere Weise. Sie deckt die Paradoxien der politischen Ökonomie auf und erforscht deren Komplexität und innere Widersprüche. In dem Ausmaß, wie ein Text die Verknüpfungspunkte von Macht und Bedeutung, von Macht und dem sie konstituierenden Diskurs ausführt, entlarvt er sie und zieht sie zur Verantwortung. Durch die Aufdeckung dieser Verantwortung erkennt der/die Schreibende an, wie wichtig das Verhältnis des Texts zu anderen ist. So gesehen handelt es sich beim Schreiben um die Visualisierung ethischer Relationalität durch eine tiefgreifende Kritik der Macht. Indem die konstitutive Präsenz von Andersheit innerhalb des Selbst und um es herum anerkannt wird, führt das Schreiben das Elend vereinheitlichender Vorstellungen des Subjekts als eine autonome Entität vor Augen. Nomadische oder fließende Identitäten gehören zu diesem Geschäft. Die Taktiken des Widerstands und die ethischen Herangehensweisen sind nicht nur wechselseitig kompatibel, sondern auch miteinander verflochten. In beiden Fällen bezieht sich der/die Schreibende nicht nur auf die Sprache als Werkzeug der kritischen Analyse und rationalen poli-tischen Intervention, sondern empfindet sich als von ihr bewohnt – als ein Anderes im Inneren.
Eine grundlegende Hermeneutik des Verdachts befindet sich im Kern dieser Neudefinition des Stils und hat mit einer Kritik der einheitlichen Subjektivität zu tun. Foucaults These vom Tod des Menschen beruht auf der Annahme, dass der Mensch weder ein Ideal ist noch im Sinne eines objektiven, statistischen Durchschnitts oder Mittelwegs gefasst werden kann. Der Mensch ist vielmehr die Ausformulierung einer systematisierten Norm der Wiedererkennbarkeit – der Gleichheit –, durch die alle anderen beurteilt, reguliert und bestimmten sozialen und symbolischen Orten zugewiesen werden können. Der Mensch ist eine normative Konvention, die ihn nicht an sich negativ macht, nur höchst regulierbar und folglich dienlich für die Praktiken der Exklusion und Diskriminierung. Was als neutrale Kategorie präsentiert wird – »der Mensch als Maß aller Dinge« –, funktioniert mittels der Übersetzung einer spezifischen Weise des Menschseins in eine verallgemeinerte Norm, die einen transzendenten Wert erhält durch das, was sie von der Kategorie des Menschen ausschließt und in diese einschließt. Die Entwicklung vollzieht sich vom Mann über das Männliche bis zum Menschlichen als das verallgemeinerte Format von Menschheit. Diese Norm wird als von den sexualisierten, rassifizierten und naturalisierten Anderen dieses Subjekts kategorisch und qualitativ getrennt behauptet und ebenso in Gegensatz zu technologischen Artefakten gesetzt. Insofern das Schreiben sich der Enthüllung der strukturellen Ungerechtigkeiten und konstitutiven Ausschlüssen dieser Vorstellung des Subjekts widmet, ist es – als eine intransitive Tätigkeit – implizit politisch und explizit ethisch.
Was mich von vorneherein an den französischen Philosophien der Differenz, etwa den multiplen Subjekten des Werdens bei Deleuze oder Irigarays virtuell Weiblichen, reizte, war, dass sie bei der Behandlung von Identität und Macht nicht oberflächlich bleiben, sondern an die begrifflichen Wurzeln gehen. Dabei radikalisieren sie gesellschaftlich konstruktivistische Methoden und verlagern die psychosoziologische Debatte der Identität hin zu Themen der Subjektivität, d.h. zu Fragen der Berechtigung und der Macht. Es ist besonders wichtig, den Begriff der Subjektivität nicht mit der Vorstellung des Individuums oder des Individualismus zu verwechseln: Subjektivität ist ein gesellschaftlich vermittelter Prozess der Berechtigungen und Verhandlungen von Machtverhältnissen. Folglich ist die Bildung und Entstehung neuer gesellschaftlicher Subjekte immer ein kollektives Unterfangen, dem individuellen Ich äußerlich, während gleichzeitig die tiefen und singulären Strukturen des Ichs in Bewegung gesetzt werden.
Aus dieser Perspektive betrachtet bezeichnet Subjektivität den Pro-zess, der darin besteht, reaktive (potestas) und aktive Instanzen der Macht (potentia) unter der fiktionalen Einheit des grammatikalischen Ichs zu verketten. Das Subjekt besteht aus einem Prozess ständiger Verschiebungen und Verhandlungen zwischen verschiedenen Ebenen der Macht und des Begehrens, d.h. aus Verstrickung und Ermächtigung. Was immer wie eine Einheit aussehen mag, ist kein gottgegebenes Wesen, sondern die fiktionale Choreografie vieler Ebenen eines relationalen Ichs zu einem gesellschaftlich funktionsfähigen Ich innerhalb einer monistischen Ontologie. Das, was den gesamten Prozess des Subjekt-Werdens aufrecht erhält, ist der Wille zum Wissen, der Wunsch zu sagen, der Wunsch zu sprechen, es ist ein gründendes, primäres, lebenswichtiges, notwendiges und daher ursprüngliches Streben zu werden (conatus).
Für eine europäische Theoretikerin bringt das Projekt des feministischen Nomadentums einen Bezug zu vielen verschiedenen Sprachen mit sich. Meine Arbeit als Theoretikerin verfügt über keine Muttersprache, nur über eine Abfolge von Übersetzungen, Verschiebungen und Anpassungen an sich verändernde Bedingungen. Für mich ist Nomadentum gleichbedeutend mit Vielsprachigkeit. Obwohl dies eine große lexikalische Kontamination und das eine oder andere syntaktische Debakel mit sich bringt, sind für mich die wirklichen Effekte der Kreolisierung immer akustische gewesen. Akzente sind die Spuren meiner vielen sprachlichen Heimaten. Sie sind Zeichen meiner eigenen Ökologie der Zugehörigkeit, meiner Loyalität gegenüber divergierenden und doch parallel verlaufenden Leben. Ich schreibe immer mit einem Akzent. Kreativität bedingt die aktive Verschiebung dominanter Formationen von Identität, Erinnerung und Identifikation, um diese für alternative genealogische Linien zu öffnen – und das führt oft dazu, die Sprache zu wechseln. Kreativität läuft auf die Verwirklichung virtueller Potenzialitäten hinaus. Das nomadische Werden ist der Prozess der Bejahung der unveränderlichen positiven Struktur der Differenz, losgelöst vom binären System, das diese traditionellerweise der Gleichheit entgegensetzt. Die Differenz als Positivität im Herzen des Subjekts führt zu einem vielgestaltigen Prozess der Transformation, zu einem Spiel der Komplexität, das das Prinzip des Nicht-Eins zum Ausdruck bringt. Entsprechend zeichnet sich das denkende Subjekt weder durch den Einsatz tiefer Innerlichkeit noch durch die Ausführung transzendentaler Modelle des reflexiven Bewusstseins aus. Das nomadische Subjekt ist ein materiell eingebettetes und verkörpertes, affektives und relationales, kollektives Gefüge [assemblage], ein Relaispunkt eines Netzes komplexer Relationen, die die Zentralität der mit dem Ego-Index versehenen Vorstellungen von Identität verschieben.
Ausgehend von Foucault argumentiert Deleuze, dass angesichts der deterritorialisierenden Kraft der Prozesse des Werdens diese ihre Kraft aus einem energetischen Kern des Subjekts gewinnen, einem vibrierenden Zentrum von Aktivität, das den kreativen Pol seiner Kräfte als potentia darstellt. Diesem Pol steht der restriktive Pol institutionalisierter Macht als potestas gegenüber, der diese lediglich kopieren und weiterführen kann. Nur potenzielle oder freudige Affirmation hat die Kraft, qualitative Verschiebungen in Prozessen des Werdens zu bewirken. Daher unterstreicht Deleuze die Idee, dass es anderes Werden als minoritäres und nomadisches Werden, als Frau-, Tier- und Anders-Werden gibt. Laut Gatens und Lloyd ist dieses nomadische Werden eine Ethologie, d.h. ein Prozess des Ausdrucks, der Komposition, der Auswahl und der Einbeziehung von Kräften, die auf eine positive Transformation des Subjekts zielen. Als solches ist dieses Werden auch ein zentraler Bestandteil des Projekts der kreativen Neudefinition philosophischer Vernunft und ihrer Beziehung zu begrifflicher Kreativität, Vorstellungskraft und Affektivität.
Bezogen auf Schreibpraktiken installieren die Prozesse und Ströme des Werdens eine Art Parallelismus zwischen den Künsten, den Wissenschaften und dem begrifflichen Denken. Der Punkt, an dem sie zusammenkommen, ist die Suche nach Kreativität in Form des Experimentierens mit dem Eintauchen eigener Empfindungen in das Feld der Kräfte – formatiert durch Musik, Farbe, Klang, Licht, Geschwindigkeit, Temperatur, Intensität. Deleuze und Guattari behaupten beispielsweise, dass Schreibende das Unsagbare sprechen; malende zuvor unsichtbare Kräfte sichtbar machen, so wie Komponist_innen ungehörte Klänge hörbar werden lassen. Auf ähnliche Weise können Philosoph_innen Konzepte, die es vorher nicht gab, denkbar machen. Künstlerische Genres sind Variablen, die in einem Kontinuum koexistieren. Alles ist wiederum eine Frage des Stils, wobei mit Stil nicht Ausschmückung, sondern ein Navigationswerkzeug gemeint ist. Der Stil führt uns auf unserem Weg durch materielle (material-reale [matter-real]) Koordinaten, die auf eine nachhaltige und dauerhafte Weise zusammengefügt und komponiert werden und die qualitative Transformation der beteiligten Affekte und Kräfte ermöglichen. Sie triggern somit den Prozess des Werdens.
Die Vorstellungskraft spielt eine entscheidende Rolle bei der Ermöglichung des gesamten Prozesses des Minoritär-Werdens und folglich der begrifflichen Kreativität und ethischen Ermächtigung. Sie ist mit dem Gedächtnis verbunden: Die affektive Kraft der Erinnerung treibt den Prozess des Intensiv-Werdens an. Doch wenn man sich intensiv oder minoritär erinnert, besiegt man die Linearität und öffnet Räume der Bewegung und der Deterritorialisierung, die die virtuellen Möglichkeiten, die zuvor im Bild der Vergangenheit eingefroren waren, aktualisieren. Die Öffnung dieser virtuellen Räume ist eine kreative Anstrengung. Wenn man sich daran erinnert, das zu werden, was man ist – ein Subjekt-im-Werden – erfindet man sich tatsächlich neu auf Grundlage dessen, was man erhoffte zu werden, with a little help from your friends.
Es ist in der Tat von entscheidender Bedeutung zu erkennen, inwieweit Prozesse des Werdens kollektive, intersubjektive sind, und nicht individuelle oder isolierte; es handelt sich bei ihnen immer um Blöcke des Werdens. Andere sind integrale Bestandteile des eigenen sukzessiven Werdens. Eine nomadische Herangehensweise erkennt vollends die Armseligkeit der liberalen Vorstellung des souveränen Subjekts und überwindet folglich den Dualismus von Selbst/Andere, Gleichheit/Differenz, der dieser Vorstellung des Subjekts innewohnt. Subjekte sind kollektive Gefüge, d.h., sie bestehen aus dynamischen, aber gerahmten Kraftfeldern, die auf Dauer und bejahende Selbstverwirklichung zielen. Um sie zu erfüllen, müssen sie entlang einer Kompositionslinie konzentriert werden. Das ist, als würde man einen musikalischen Ton treffen.
Dementsprechend ist eine Figuration eine lebendige Karte, ein kreatives Konzept, das eine transformative Beschreibung des Selbst zum Ausdruck bringt; sie ist keine Metapher. Figurationen sind keineswegs figurative Denkweisen, sondern materialistische Kartografien verorteter, d.h. eingebetteter und verkörperter gesellschaftlicher Positionen. Nomadisch zu sein führt zum Niedergang einheitlicher Subjekte und zur Destabilisierung des Raumzeitkontinuums der traditionellen Vorstellung des Subjekts. Obdachlos sein, Migrant_in sein, Exilant, Flüchtling, Tourist_in, Vergewaltigungsopfer im Krieg, umherziehende(r) Migrant_in, illegaler Einwanderer, Auswanderer, Katalogbraut, ausländische Kinderbetreuerin oder Altenpflegerin in einem wirtschaftlich hoch entwickelten Land, ein äußerst erfolgreicher Profi, ein(e) global agierende(r) Finanzexpert_in, ein(e) humanitäre(r) Helfer_in im globalen System der UNO, Bürger_in eines Landes, das nicht mehr existiert (Jugoslawien, Tschechoslowakei, die Sowjetunion) – das alles sind keine Metaphern. Keinen Pass oder zu viele Pässe haben ist weder das Gleiche noch ist es nur metaphorisch. Das sind sehr spezifische geopolitische und historische Orte, deren Geschichte und Zugehörigkeit in deinen Körper eingraviert sind. Sie können ermächtigen oder verzieren, sie können Narben zufügen, verletzen und verwunden. Eine zentrale ethische wie auch methodologische Aufgabe besteht deshalb darin, zwischen den verschiedenen Formen nichteinheitlicher, vielschichtiger oder diasporischer Subjektivität unterscheiden zu lernen. Figurationen versuchen eine Karte der Machtverhältnisse zu zeichnen, die diese jeweiligen, divergierenden Positionen definieren. Sie zielen nicht auf Ausschmückung oder Metaphorisierung ab, sondern nur darauf, unterschiedliche sozioökonomische und symbolische Orte zum Ausdruck zu bringen.
In der späten Postmoderne teilt Europa das Phänomen der Transkulturalität, des Aufeinandertreffens der Kulturen in einem mehrethnischen, mehrsprachigen und multikulturellen Raum, mit der übrigen Welt. Die globale Migration – eine gewaltige Bewegung der Bevölkerung von der Peripherie ins Zentrum – stellt den Anspruch auf eine vermeintliche kulturelle Homogenität der europäischen Nationalstaaten und der noch jungen Europäischen Union infrage. Für das heutige Europa, in einer Zeit, in der Rassismus und Technikfeindlichkeit stetig zunehmen, ist der Multikulturalismus eine Herausforderung. Die Paradoxien, asymmetrischen Machtverhältnisse und Fragmentierungen des gegenwärtigen historischen Wettbewerbs erfor-dern eine Verschiebung der politischen Debatten vom Thema der Differenzen zwischen den Kulturen hin zu den Differenzen innerhalb jeder Kultur. Anders formuliert besteht eines der Merkmale unserer gegenwärtigen historischen Verhältnisse in dem sich verschiebenden Terrain, auf dem sich Peripherie und Zentrum begegnen, mit einem neuen Grad an Komplexität, die sich dem dualistischen Denken oder dem Denken in Gegensätzen widersetzt.
Schwarze, postkoloniale und feministische Kritiker_innen haben jedoch richtigerweise mit Missbilligung auf die entstandenen Paradoxien und die ziemlich perverse Arbeitsteilung reagiert: Theoretiker_innen im Zentrum vergangener oder heutiger Imperien dekonstruieren aktiv die Macht des Zentrums und tragen so zur diskursiven Verbreitung und Rezeption vormalig negativ besetzter Anderer bei. Doch eben diese Anderen – besonders in den postkolonialen, aber auch postfaschistischen und postkommunistischen Gesellschaften –
legen mehr Wert darauf, ihre Identitäten zu behaupten, als sie zu dekonstruieren. Die Ironie dieser Situation entgeht niemandem. Man denke zum Beispiel an eine feministische Philosophin, die sagt: »Wie kann man eine Subjektivität, auf die wir historisch nicht mal einen Anspruch hatten, dekonstruieren [undo]?« – Oder an schwarze und postkoloniale Subjekte, die argumentieren, dass sie jetzt historisch an der Reihe seien, selbstbewusst zu sein. Und wenn das weiße, männliche, ethnozentrische Subjekt sich dekonstruieren und in eine endgültige Krise begeben möchte – dann soll es halt so sein! Es geht letztendlich darum, dass die Differenz als eine zentrale – wenn auch umkämpfte und paradoxe – Vorstellung und Praxis in Erscheinung tritt. Das bedeutet, dass eine Konfrontation mit unterschiedlichen Positionen historisch unvermeidlich ist, dass wir historisch gesehen zu unserer Geschichte verdammt sind. Es bleibt daher ein vorrangiges Ziel, ihnen mittels geeigneter Kartografien Rechnung zu tragen. Mein nomadisches Subjekt verfolgt die gleiche Kritik der Macht wie die schwarzen und postkolonialen Theorien, nicht obwohl, sondern weil diese woanders verortet sind. Der philosophische Nomadismus setzt sich kritisch und kreativ mit der Rolle des ehemaligen Zentrums bei der Neudefinition der Machtverhältnisse auseinander. Ränder und Zentrum verschieben sich und destabilisieren sich in parallelen, aber asymmetrischen Bewegungen. Ich möchte der Definition des Zentrums als unbeweglich und sich selbst perpetuierend entgegentreten, ebenso wie der aporetischen Wiederholung von Gleichheit. Die Herausforderung besteht darin, dogmatische, hegemoniale und ausschließende Machtstrukturen im Herzen der Identitätsstrukturen des dominanten Subjekts mittels nomadischer Interventionen zu destabilisieren und so Veränderungen in diesen tiefgreifenden Strukturen zu bewirken.
Dabei handelt es sich nicht einfach um Dekonstruktion, sondern um die Verlagerung von Identitäten in ein neues Terrain, das den vielfältigen Zusammengehörigkeitsgefühlen, d.h. einer nichteinheitlichen, relationalen und ethisch verantwortlichen, materialistischen Vorstellung des Subjekts Rechnung trägt. Dieses Subjekt sehnt sich aktiv nach einem komplexen und immanent widersprüchlichen Netz sozialer Beziehungen und konstruiert sich selbst darin. Um diesen Beziehungen gerecht zu werden, müssen wir Prozessontologien statt Essenzen betrachten, Transformationen statt Gegenansprüche auf Identität. Die sich überschneidenden soziologischen Variablen (Gender, Klasse, Rasse und Ethnizität, Alter, Gesundheit) müssen ergänzt werden durch eine Theorie des Subjekts, die die inneren Fasern des Selbst infrage stellt. Diese beinhalten das Begehren, die Fähigkeit und den Mut, multiple Zugehörigkeitsgefühle im Kontext des fortgeschrittenen Kapitalismus auszuhalten, welcher Gleichförmigkeit, kulturellen Essenzialismus und eindimensionales Denken feiert und belohnt. Nomadische Subjekte ist mein Beitrag als europäisches nomadisches Subjekt, das sich in einer vielgestaltigen Landschaft des Weißseins bewegt, zu einer Debatte, die schwarze, antirassistische, postkoloniale und andere kritische Theoretiker_innen in Gang gesetzt haben. Das klaustrophobische, selbstbezügliche, eurozentrische, philosophische Denken kann den Herausforderungen der Vielfalt, des Multikulturalismus und der mediatisierten Gesellschaften, zu denen wir bereits geworden sind, nicht gerecht werden. Wir benötigen weit universalere Dimensionen.
Wie ist es um die Subjektformen der Gegenwart und wie ist es um deren Selbst-Verständnis bestellt? In künstlerischen Arbeiten und wissenschaftlichen Theorien treten immer häufiger ›fragile Identitäten‹ in den Vordergrund. Sie erscheinen als Kritiken am Begriff der Identität selbst, verweisen aber vor allem auf den prekären Zustand von Subjektformen im fortgeschrittenen Kapitalismus und in aktuellen politischen Umbruchsituationen. Anknüpfend hieran lotet der Band Chancen und Gefährdungen des fragilen Selbst aus und fragt nach der Dringlichkeit eines neuen Konzepts von Subjektivität. Die Publikation ist Ergebnis des zweiten Jahresprogramms des cx centrum für interdisziplinäre studien an der Akademie der Bildenden Künste München.