Gerard Reve: Die Abende. Eine Wintergeschichte (De Avonden)
Aus dem Niederländischen von Jürgen Hillner, Merlin Verlag: Gifkendorf 1988.
Kommt ein Polizist zu einem Mann, der beschuldigt wird, seinen kleinen Sohn zu Tode geschüttelt zu haben. Wie ist denn das passiert?, will der Polizist wissen. So!, gibt der Mann zur Antwort, greift sich die kleine Tochter und schüttelt sie, bis sie tot ist. Es sind solche Episoden, beiläufig erzählt wie Schulhofwitze, die den Säuregrad des Romans »Die Abende« von Gerard Reve bis ins Unerträgliche treiben. Direkt nach Erscheinen 1947 als nihilistisch und sittenverderberisch skandalisiert, verschwand das Buch zwar schnell vom Tisch, brachte seinem Autor aber einen soliden Ruf ein, der im niederländischen Sprachraum bis heute besteht. Die Anstößigkeit des Textes liegt in seinem so schonungslosen wie frischen Duktus, der immer noch einfährt wie ein Stilett in ein Stück Butter und die Absurdität eines normativen Alltags nach der deutschen Besatzung aufs Irritierendste zu vermitteln vermag. Man begegnet dem Büroangestellten Frits im Amsterdam der Nachkriegszeit, der, zwischen Langweile, Überdruss und Abscheu seine Zeit mit der mitleidlosen Beobachtung seiner gealterten Eltern und dem Verbrennen von Kellerasseln verbringend, das Ende des Jahres 1946 abwartet. Die Abende jedoch werden herbeigesehnt: »Zwei Drittel des Tages sind um«. Abends trifft man sich, amüsiert sich, betrinkt sich, wobei Frits das Gespräch stets auf deviantes Verhalten, körperlichen Verfall und tragische Unfälle zu bringen weiß. Die unverdaulichsten Geschichten werden erzählt, die extremsten Meinungen geäußert, doch es bleibt meist bei verbalen oder gedanklichen Exzessen: Am Ende eines jeden Abends findet sich Frits zu Hause in seinem Bett wieder, zwar von Alpträumen geplagt, doch auch aufgefangen durch den prekären Zusammenhalt seines sozialen Umfeldes. Wie ein Borderliner am Rande der neu gewonnenen Alltäglichkeit balancierend, ahnt Frits vor allem Eines: Dem Frieden ist nicht zu trauen, doch die Zeit vergeht und das Leben geht weiter. Wer wissen will, wie ein stockfischiger Schnapsrausch im Amsterdam des Jahres 1946 schmeckt, sollte das hier lesen.
Oswald Wiener: Die Verbesserung von Mitteleuropa,
Roman, Rowohlt: Reinbek b. Hamburg, 1985, Neuausgabe, 205 Seiten
Der Titel ist Programm. Dieses »in der hauptsache von 1962 bis 1967« geschriebene Werk ist nicht nur ein megalomanisch zusammengeclustertes Durchverdauen der bewegenden Theorien der späten 60er Jahre (Linguistik, Kybernetik, Systemtheorie, Psychoanalyse), wie auch das Vermächtnis einer radikalen intellektuellen Avantgarde im Moment ihrer engsten Koalition mit dem Pop.
Neben den »kernstücken zu einer experimentellen vergangenheit« sind die »notizen zum konzept des bio-adapters, essay« der einflussreichste Teil dieses radikal antinarrativen Romans. Entworfen wird das Konzept des bio-adapters, einem »glücks-anzug«, der den Mensch vollständig umhüllt und alle leiblichen wie seelischen Zustände simuliert und sukzessive verbessert. Im letzten Schritt des Prozesses der Assimilation ersetzt der Apparat das Nervensystem des Eingeschlossenen und verschmilzt mit diesem. Aus dem Mensch-Maschine Interface wird eine selbstgenerierende Wunscherfüllungsmaschine. Das ist Cyberspace avant la lettre. Oder, um mit Wiener zu sprechen: Kybernetik für alle.
Mitteleuropa, dieses während das kalten Krieges von zwei sich gegenseitig verzehrenden Ideologien umschlossene Gebiet war die ideale Geburtsstädte dieses Apparats, der den Menschen unabhängig von jeglichem Materialismus zum Glück verhelfen soll. Nicht von ungefähr regieren nun, nach Zusammenbruch dieses anderen Apparats ideologischer Zurichtung, in Mitteleuropa neofaschistische Strömungen. Mein Exemplar dieser als Roman getarnten Sammlung von delirierender Prosa, theoretischen Überlegungen, Sprachspielen, großartiger Konkreter Poesie und auch totalem neodadaistischem Quatsch ist schon recht vergilbt, die Ausgabe ist, wiewohl schön gestaltet, auf miserables Papier gedruckt.
Oswald Wiener war auch ein begnadeter Aphoristiker, das letzte Wort geht an ihn: mein ideal: ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser zeit komplett zu machen.
spot, casopis za fotografiju, Nr. 4, 1974,
Galerija Grada Zagreba: Zagreb 1974, 48 Seiten
In Jugoslawien wurde viel publiziert und wenig weggeworfen. So hatte man die Möglichkeit, in staatlichen Galerien und Museen Ausstellungskataloge und Kunstzeitschriften für Pfennige zu schießen. Einen besonderen Platz in meinem Regal nimmt »spot«, die vierte Ausgabe einer Zeitschrift für Fotografie aus dem Jahre 1974, ein. Das Magazin ist eine wahre Wundertüte. Neben Artikeln über den konzeptuellen Gebrauch von Fotografie im Werk John Baldessaris gibt es ein Interview mit Leslie Crimson und einen Artikel über polnische Fotografie in den 60ern. Das Beste im Heft sind allerdings die Beispiele für damalige Werbegrafik. Jugoslawen durften bekanntlich reisen und haben viel an europäischen Unis gelernt. Die Künstler schwankten schwindelfrei zwischen internationalem Style und Brutalismus. Vom Bauhaus waren vor allem die sozialistischen Ideen übriggeblieben. Und so eignete sich das Heft wunderbar für das Erstellen von DIN-A4-Plakaten. Ich studierte damals Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und benutzte viele der Fotos für die Ankündigung meiner damaligen Theatergruppe Batterie:Kongress. Die Bilder kombinierte ich immer mit einem Ankündigungstext, den ich mit der mechanischen Schreibmaschine von Triumph-Adler tippte. Daraus ergaben sich Flyer in gesättigtem Schwarz-Weiß. In irgendeinem Umzugskarton müssen noch die gebrauchten Korrekturbänder der Schreibmaschine liegen. Die habe ich gesammelt. Im digitalen Zeitalter werden Fehler und Versuche immer gelöscht. Was von damals übrig blieb, ist die utopische Version des Vielvölkerstaates Jugoslawien und meine aufgerollten Tippfehler in Kisten. Beides keine Irrtümer der Geschichte, sondern große Kunst.