Gerhard Neumann: Der Affe als Ethnologe
Der Affe als Ethnologe
(p. 79 – 97)

Kafkas Bericht über den Ursprung der Kultur und dessen kulturhistorischer Hintergrund

Gerhard Neumann

Der Affe als Ethnologe
Kafkas Bericht über den Ursprung der Kultur und dessen kulturhistorischer Hintergrund

PDF, 17 pages

Gerhard Neumann liest Kafkas Bericht für eine Akademie im doppelten Kontext einerseits der zeitgenössischen Explorationen, die die Arbeiten von Darwin, Nietzsche und Freud im Grenzgebiet zwischen Tier und Mensch ausgelösten haben, und andererseits der heutigen, wesentlich durch die Möglichkeiten und Verheißungen der Bio-Informatik informierten lebenswissenschaftlichen Debatten. Dabei wird zunächst deutlich, dass Kafkas Affenbericht nicht nur wesentliche Elemente anthropologischer (De Waal) und philosophischer Spekulationen (Agamben, Sloterdijk), etwa über die wesentlich hybride Verfassung des Menschen antizipiert; wichtiger noch erscheint Neumanns Beobachtung, dass Kafkas Affe bereits die von heutigen Wissenschaftshistorikern (Bühler und Rieger) beschriebene Funktion des Tieres als »Agent eines neuen Wissens vom Menschen« bzw. als »Forschungsfigur« einnimmt. Anders als bei Nietzsche, so ließe sich vor diesem Hintergrund pointieren, steht bei Kafka der auf Schriftquellen beschränkten Genealogie keine Lebensphilosophie zur Seite, die doch noch einen Durchgriff auf das Leben selbst verheißen würde. Seine Bio-Poetik ist nicht mehr und nichts anderes als Beschreibung von Verfahren und, nicht zuletzt, ein schriftgebundenes Verfahren zur Umschrift von Beschreibungen.

  • histoire du discours
  • Franz Kafka
  • Nietzsche

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Friedrich Balke (éd.), Joseph Vogl (éd.), ...: Für Alle und Keinen

Es gibt kaum zwei andere Autoren der deutschsprachigen Moderne, bei denen das Verhältnis von Sprache und Leben so intensiv verhandelt wird wie bei Friedrich Nietzsche und Franz Kafka. Für Nietzsche, den »gefährlichen Denker« und das »Dynamit« der christlich-abendländischen Werteordnung, wie für Kafka, den »Dichter der Angst« und Experten für Arbeiter-Unfallversicherung, bilden die biopolitischen Dispositive des heraufkommenden Wohlfahrtsstaates und die Verschiebungen, die der Historismus für die Ökonomie des Wissens und die Massenpresse für die Ökonomie der Rede bedeuten, eng aufeinander bezogene Faktoren des Problemgefüges, das ihre Schreibprojekte hervortreibt. Für beide stellt der Doppelcharakter sprachlicher Überlieferung – als Sicherung des kollektiven Lebens und als Unterwerfung des individuellen – eine zentrale schriftstellerische Herausforderung dar, und beide begreifen die daraus resultierende Riskanz einer radikalen Umschrift der durch Lektüre angeeigneten Tradition als ethisches Problem.

Der Band zielt darauf ab, die beiden Antworten auf jene Herausforderung vor ihrem jeweiligen biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund gegeneinander zu kontrastieren und sie zugleich als – bis heute gültige – paradigmatische »Haltungen« im diskursiven Feld der Moderne sichtbar werden zu lassen. Indem der Band den »dialogischen« Bezug Kafkas auf Nietzsche auf der Folie diskursiver und medialer Ereignisse und Konstellationen der Zeit motiviert und spezifiziert, lässt er ihn zugleich als vielstimmigen »Polylog« oder sogar unlesbaren »Babellog« quer durch die Kultur und die Wissensfelder des anbrechenden »kurzen 20. Jahrhunderts« (1914–1989) erscheinen.