Werner Hamacher: Freistätte
Freistätte
(p. 217 – 247)

Zum Recht auf Forschung und Bildung

Werner Hamacher

Freistätte
Zum Recht auf Forschung und Bildung

PDF, 31 pages

Man sollte sich keine Illusionen machen: Es ist nicht mehr gesichert, dass es Universitäten gibt. Was es gibt, sind höhere Bildungsanstalten, die sich mehr und mehr in polytechnische Hochschulen verwandeln und sich auch in ihren geisteswissenschaftlichen Abteilungen seit Jahren immer rückhaltloser als Ausbildungsstätten von Arbeitern für Industrie und Bürokratie, für Management und human engineering, für die Reproduktion, Expansion und Ökonomisierung staatlicher und privater Routinen definieren.

Man sollte sich auch darüber keine Illusion machen, dass das allein nicht in jeder Hinsicht bedauernswert ist. Jene Routinen, die privaten wie die staatlichen, werden gebraucht, bedürfen der Reproduktion, deshalb der Expansion, deshalb des ökonomischen Kalküls. Komplexe Gesellschaften sind ohne Bürokratie so wenig lebensfähig wie ohne Finanzsysteme, Gesellschaften ohne Ausbildungsinstitutionen können so wenig wie solche ohne Industrie überleben. Es ist selbstverständlich, dass für diese Gebilde Gebildete gebraucht werden, dass sie im Hinblick auf ihre Arbeit und deren vielfache Funktionen unterrichtet und dass sie über den gesamten Zusammenhang ihrer gegenwärtigen und künftigen Tätigkeiten nach dem jeweils besten Stand des Wissens informiert werden müssen. Arbeiter sind unbrauchbar, wenn sie nicht darüber im Bilde sind, was sie tun und wie sie es in welchen Zusammenhängen, unter welchen Bedingungen und zu welchen Zwecken tun sollen. Ist ihre Arbeit unbrauchbar, dann ist das Binde- und Lebensmittel ihrer Gesellschaft zerfallen. Folglich muss jede Gesellschaft, die Gesamtheit ihrer Agenturen, Institutionen, Systeme und jedes einzelne ihrer Mitglieder ein Interesse an der umfassenden, der möglichst lückenlosen und ununterbrochenen Ausbildung ihrer Arbeiter haben. Dies Interesse kann kein Interesse neben anderen, es kann noch weniger ein untergeordnetes, es muss ein elementares, uneingeschränktes und mit allen gesellschaftlichen, staatlichen wie privaten Mitteln gefördertes Interesse sein. Und das gilt selbst dann, wenn nicht in Betracht gezogen wird, dass es ein Interesse gibt, das weiter geht als das an der Ausbildung: das Interesse nämlich an Bildung und an allem, was ihr in Forschung und Lehre zugute kommt.


Die Bildungspolitik erlaubt aber seit langem keine Illusionen darüber: Das fundamentale gesellschaftliche wie individuelle Interesse an Unterrichtung, Ausbildung und Information wird von den staatlichen Institutionen in Europa, in den amerikanischen Ländern und wahrscheinlich weltweit nicht als vorrangiges, nicht als elementares und nicht als universelles Interesse behandelt. Im Gegenteil, die mächtigste Institution der Gesellschaft, der Staat, vernachlässigt das vitale Interesse der Gesellschaft an ihren Bildungsinstitutionen, und vernachlässigt es nicht nur bei Gelegenheit, sondern systematisch und in einer Weise, die Zweifel daran weckt, ob der Staat tatsächlich eine Institution der Gesellschaft ist. Die...

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Unbedingte Universitäten (éd.): Was passiert?

Der Band versammelt Positionen, die aus ­aktuellen Protestbewegungen agieren oder zu ihnen Stellung beziehen. Positionen, die jüngste Veränderungen des Hochschulwesens beschreiben und reflektieren, auf Gefahren aufmerksam machen, ebenso aber Möglichkeiten aufzeigen und explizite Forderungen stellen. Es sind Stellungnahmen, Bekenntnisse, Positionspapiere, geschrieben von zeitgenössischen Autoren, von Professoren, Studenten, Kollektiven. Stimmen werden laut, die wütend, nachdenklich, pragmatisch, unerbittlich einstehen für die Forderung, sich heute mit der Lage der Universität auseinanderzusetzen.

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