Von einer Automatisierung des Lebens kann dann gesprochen werden, wenn Algorithmen der Steuerung, des Erfassens und Auswertens von Daten direkte und indirekte Wirkungsmacht über menschliches Verhalten entwickeln. Der Blick, der hier darauf geworfen wird, ist eng mit den Inhalten und Ansprüchen eines der führenden Print-Feuilletons im deutschsprachigen Raum verbunden. Wo wenn nicht hier wäre es möglich, die Entwicklung von Medien, Kritik und Künsten zu beobachten, dabei Bezüge zu frühindustriellen Erzählungen über Allmachtsphantasien, Entfremdungsängste und losgelassene Monster herzustellen, und mit der resultierenden Diagnose auf Gesellschaft und Politik einzuwirken?
Ruedi Widmer Lassen Sie uns beginnen mit einer kurzen Zusammenfassung der Diagnose, die Sie in Ihren Büchern »Payback« und »Ego« entwickeln. Dazu gehört die Beschreibung eines von Ideologen der Wirtschaft und des Militärs vorausgedachten, in Algorithmen ablaufenden Strategiespiels. Der Mensch wird gewissermaßen zur Funktion in diesem Strategiespiel, indem »Nummer 2«, wie Sie den Antreiber der Systemlogik nennen, im Gehirn und im Verhalten des Individuums immer mehr Platz einnimmt. Sie beschreiben das wie eine eigendynamische Entwicklung. Zugleich scheinen Sie davon auszugehen, dass Mensch und Gesellschaft den Spieß noch umdrehen können.
Frank Schirrmacher Das ist gut beobachtet. Es ist richtig, dass diese Entwicklung nur dann eigendynamisch ist, wenn wir sie einfach hinnehmen.
Ruedi Widmer Das heißt, Sie setzen gegen die Macht des Maschinencodes Ihre kulturkritische Prosa, die durch die Schilderung der Unfreiheit des Menschen an seine Freiheit appelliert. »Nummer 1«, der im Modus des Appellierens schreibt, wendet sich gegen »Nummer 2«, den Schreiber von Maschinencode. Angenommen, dass es dieses Maß an Maschinenmacht und damit korrespondierender Menschen-Ohnmacht so noch nie gab: Ist dann das Mittel des kulturkritisches Schreibens überhaupt noch angemessen?
Frank Schirrmacher Ich verwende eine Sprache, von der ich glaube, dass sie verstanden werden kann. Die Herausforderung bleibt aber riesig, denn was ich in dieser Sprache versuche, ist das Sichtbarmachen einer anderen Sprache, eben der von Nummer 2. Die Kategorien, in denen wir zu denken gelernt haben, sind dafür nicht wirklich gut geeignet.
Ruedi Widmer Als Gegenstrategie gegen das System, welches dem Subjekt seine Kategorien aufdrückt, erwähnen Sie auch Max Frisch mit Romanfiguren wie Stiller oder Gantenbein. Der Wille zur Freiheit manifestiert sich dort darin, dass Identität imaginiert und gleichzeitig problematisiert wird. Sie sagen, dass solches Erzählen gegen den Strom äusserer Festlegungen heute obsolet geworden ist. Können Sie das genauer erklären?
Frank Schirrmacher Frisch ist die alte Welt, die Idee oder der Traum, dass man seine Identität wählen und dass man sie mit erzählerischen Mitteln realisieren kann. Im digitalen Zeitalter ist der Traum, dass man sich andere oder multiple Identitäten zulegt, wahr geworden. Gerade damit aber liefere ich mich als Individuum der lesenden Maschine aus, die meine Daten sammelt und bewertet. Meine Facebook-Einträge mögen noch so facettenreich sein: Der Leser auf der anderen Seite generiert Antworten auf die Frage, wie es um meine Kreditwürdigkeit, meine Loyalität oder meine Lernfähigkeit steht. Die Deutungshoheit liegt schon deshalb nicht bei mir, weil ich in der Regel keine Chance habe, solche Bewertungen auch nur zu sehen. Das heißt aber nicht, dass...
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Laienherrschaft
18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien
broché, 320 pages
Inkl. Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer
PDF, 320 pages
Die vielfach geforderte Freiheit des Einzelnen, Kunst nach eigenem Gutdünken zu rezipieren, zu genießen, aber auch zu produzieren und damit zu definieren, ist heute weithin Realität geworden. Wir leben im Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten und den mit ihnen verbundenen Medien: einem Regime, das auf der Dynamik der Massen-Individualisierung und dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten beruht, in dem jede Geltung relativ ist und die Demokratisierung in ihrer ganzen Ambivalenz zum Tragen kommt.
Die Essays und Interviews des Bandes kreisen um die Figur des Kulturpublizisten. Wie wirken Ökonomisierung und Digitalisierung auf sein Selbstverständnis ein? Wie sieht es mit der gegenwärtigen Rollenverteilung zwischen Publizist und Künstler aus? Wie verhält sich der Publizist gegenüber dem immer eigenmächtiger auftretenden Rezipienten? Der zeitgenössische Kulturpublizist tritt als Diskursproduzent und als Weitererzähler flüchtiger Wahrnehmung auf; doch auch als Interpret, der als Leser und in diesem Sinne als »Laie« seine Stimme entwickelt – jenseits aller Reinheits- und Absicherungsgebote, die etwa die Wissenschaft aufstellt. Eine Kultur des Interpretierens als eine von der Laienperspektive her gedachte Kultur der Subjektivität, der Aufmerksamkeit, der Sprache und der Auseinandersetzung mit den Künsten ist in Zeiten der Digitalisierung eine unschätzbar wertvolle, omnipräsente und zugleich bedrohte Ressource.
Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer.