Herkömmliche Vorstellungen von (Kunst-)Öffentlichkeit gehen davon aus, dass wir in einer Welt leben, und dass diese Welt durch medial vermittelte kollektive Erschütterungs-Ereignisse immer neue Kapitel einer alle mit einschließenden Geschichte schreibt. Diesem Bild stehen heute ganz andere Bilder gegenüber: Digitalisierte Öffentlichkeit ist in drastischem Ausmaß plural, privat und kleinräumig. Wenn sie bis zum nur noch rhetorisch nach außen geöffneten Selbstbezug geschrumpft ist, kann schlicht alles, was die publizierende Person als ihr liebstes Geschöpf versteht – so auch beispielsweise eine Katze, deren Bild auf einer Website in heiligender Absicht gezeigt wird –, als Kunst oder Kultur figurieren.
Ruedi Widmer Im Band »Die Vernunft an die Macht«, einem Dialog mit Vittorio Hösle, sprechen Sie vom »Anspruch der Welterschütterung«. Sie sagen, dass die Fundamente der Gesellschaft nicht mehr auf einen Diskurs gründen, weshalb sie von einem Diskurs auch nicht erschüttert werden können. Heißt das, dass der Anspruch auf Welterschütterung durch die Kunst oder die Medien heute gar nicht mehr erhoben werden kann?
Boris Groys Wenn ich sage, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem dieser Anspruch der Welterschütterung durch die Kunst – und durch das Wort – an Relevanz verloren hat, dann meine ich damit, dass wir im Zeitalter des Kapitalismus leben. Was wir tun, besteht grundsätzlich in der Produktion und im Austausch. Dafür braucht es das grundlegende Einverständnis der Menschen mit der kapitalistischen Ordnung und allem, was dazu gehört. Ich habe nicht das Gefühl, dass das lange Zeit dauern wird. Die Märkte sind globalisiert, die politischen Mächte bleiben national verfasst. Dieser Widerspruch hält schon lange an, ist aber heute besonders virulent. Schon einmal – im ersten Weltkrieg – brach der internationale Handel, der ja fast während des gesamten 19. Jahrhunderts frei war, zusammen. Daraus resultierte das 20. Jahrhundert, mit allem, was dazu gehört. Auch mit einer ideologisch geprägten und radikalen Kunst. Die Erschütterung wurde damals nicht von der Kunst hervorgerufen, entfaltete aber in der Kunst und durch die Kunst eine große Wirkung.
Ruedi Widmer Die Freiheit des Handels ist demgemäß die Basis des prekären Systemgleichgewichts, in dem wir leben. Und Revolutionen in der Kunst sind abhängig davon, dass diese Basis aufgrund großer politischer Erschütterungen verloren geht.
Boris Groys Ja. Eine Erfahrung der Kunst, die nicht den Mustern des Kapitalismus folgt, wird dann zu einer Notwendigkeit, wenn die scheinbare Stabilität des freien Austauschs nicht mehr trägt. Heute haben wir eine globalisierte Kunstöffentlichkeit, mit Biennalen, mit riesigen Messen, mit weltumspannenden Netzwerken. Wobei die Kunstinstitutionen weiterhin national und lokal bleiben. Ein Weltmuseum gibt es nicht. Die Kunstschaffenden spüren, dass so etwas wie internationale Politik fehlt. Das führt, im Sinne einer Kompensation, zur Politisierung der Kunst.
Ruedi Widmer Gilt das für die Künste überhaupt?
Boris Groys Es gilt für jede künstlerische Auseinandersetzung, die die Gegenwart aus der Gegenwart heraus reflektiert. Es stimmt, dass es nur wenige Künstler gibt, die dazu bereit und in der Lage sind.
Ruedi Widmer Wie steht es um das Publikum? Ist es bereit und in der Lage, solche Vorschläge von Künstlern aufzugreifen?
Boris Groys Die Gesellschaft muss in eine gewisse existenzielle Not geraten, um sich dafür erwärmen zu können. Das...
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Laienherrschaft
18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien
broché, 320 pages
Inkl. Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer
PDF, 320 pages
Die vielfach geforderte Freiheit des Einzelnen, Kunst nach eigenem Gutdünken zu rezipieren, zu genießen, aber auch zu produzieren und damit zu definieren, ist heute weithin Realität geworden. Wir leben im Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten und den mit ihnen verbundenen Medien: einem Regime, das auf der Dynamik der Massen-Individualisierung und dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten beruht, in dem jede Geltung relativ ist und die Demokratisierung in ihrer ganzen Ambivalenz zum Tragen kommt.
Die Essays und Interviews des Bandes kreisen um die Figur des Kulturpublizisten. Wie wirken Ökonomisierung und Digitalisierung auf sein Selbstverständnis ein? Wie sieht es mit der gegenwärtigen Rollenverteilung zwischen Publizist und Künstler aus? Wie verhält sich der Publizist gegenüber dem immer eigenmächtiger auftretenden Rezipienten? Der zeitgenössische Kulturpublizist tritt als Diskursproduzent und als Weitererzähler flüchtiger Wahrnehmung auf; doch auch als Interpret, der als Leser und in diesem Sinne als »Laie« seine Stimme entwickelt – jenseits aller Reinheits- und Absicherungsgebote, die etwa die Wissenschaft aufstellt. Eine Kultur des Interpretierens als eine von der Laienperspektive her gedachte Kultur der Subjektivität, der Aufmerksamkeit, der Sprache und der Auseinandersetzung mit den Künsten ist in Zeiten der Digitalisierung eine unschätzbar wertvolle, omnipräsente und zugleich bedrohte Ressource.
Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer.