Countess Jeanne Vina La Mar

Der einzige weibliche Preisboxer, den ich kenne, ist Countess Jeanne Vina La Mar. Ich traf sie in ihrem Zimmer im Hotel St. Moritz. In dem Raum roch es wie in einer Turnhalle. Sie trug Stollenschuhe, Sporthose, zwei Wollunterhemden und einen Baumwollpullover. Sie war gerade von einem Lauf um das Reservoir im Central Park zurückgekommen und schwitzte wie ein Pferd. In den ersten zehn Minuten, in denen ich bei ihr im Zimmer war, saß die Countess friedlich und mit sittsam im Schoß ihrer Sporthose gefalteten Händen auf dem Sofa und erzählte, wie ihr von Jack Dempsey (der ihr nicht half, Kämpfe zu bekommen), den Besitzern des Madison Square Garden, der New York State Boxing Commission, Hollywood und der amerikanischen Öffentlichkeit übel mitgespielt worden war.

Plötzlich sprang sie auf und begann auf einem Läufer mit dem Schattenboxen. Mit einer exzellenten linken Geraden schlug die Countess das Gemälde von einem Piraten vom Flügel. Danach nahm sie, leicht verdutzt, wieder Platz. Sie erzählte, wie sie sich fühlte als nicht herausgeforderte Weltmeisterin im Bantam- und Federgewicht in der zivilisierten Welt.

»Sehen Sie mich an!«, rief sie und trommelte sich auf den Bauch zum Beweis, dass er noch so fest war wie 1923, als sie erstmals weibliche Filmstars bat, sie zu einem Kampf herauszufordern. »Sehen Sie mich an! Ich bin schnell wie ein Panther. In allen meinen Jahren im Ring bin ich noch nie zu Boden gegangen. Ich bin eine Dame, bescheiden und eine Weltsensation. Durch mich wurde Boxen ein schöner Sport.


Sehen Sie sich diese Muskeln an! Woher, glauben Sie, dass ich die habe? Vom Raufen mit Schlägertypen. Immer nur Männer. Ich krieg einfach keinen Kampf mit einer Frau. Ich hab das Boxen ins Reich der Kunst befördert, und was habe ich davon? Noch immer glaubt man, dass Boxen nichts für Frauen ist. Hab ich einen Schaden davongetragen? Ich frage Sie. Hab ich etwa Blumenkohlohren? Sehe ich nicht aus wie eine Frau?«

Die Countess hat eine Boxlizenz für New Jersey und Pennsylvania. In New York sind die Behörden ihr gegenüber standfest geblieben. Da sie in Florida keine Lizenz benötigt, tritt sie meist dort auf.

Auch ihr berühmtester Kampf fand in Florida statt. Diese Schlacht im Ring fand 1931 in Miami statt, und ihr Gegner war der jüngst verstorbene W. L. Young Stribling. Nach drei Runden erklärte der Ringrichter Johnny Risko den Kampf für unentschieden. Die Countess war einverstanden.

»Stribling war ein zäher Bursche«, sagte die Countess. »Er hat mich voll am Auge erwischt, der Mistkerl. Überhaupt kämpfe ich nicht gern mit Männern. Und wenn ich mit ihnen kämpfe, dann möchte ich, dass das Auftritt heißt und nicht Wettbewerb. Aber sie haben den Kampf mit Stribling Wettbewerb genannt. Ich stand schon im Ring, als ich davon erfuhr, und ich hab gesagt: ›Entschuldigung, aber das hier ist nur ein Auftritt.‹ Dann verpasste ich Stribling eine anständige Rechte aufs Kinn, und er wachte auf. Er lieferte mir einen harten Kampf.«

Die Countess hält nichts von den Boxkämpfen zwischen Frauen in den Burlesque-Theatern oder auf den Vaudeville-Bühnen. Sie findet, Frauen sollten im Madison Square Garden boxen dürfen, aber ihr Feind, Jimmy Johnson, ist strikt gegen diese Idee. Und es fällt ihr schwer, eine Gegnerin zu finden. Ohne Erfolg hat sie Mary Pickford, Clara Bow und die meisten drallen weiblichen Stars herausgefordert. Sie antworten nicht auf ihre Briefe.

»Ich hätte gerne eine Runde mit Clara Bow«, sagte die Countess. Sie sagte, sie betätige sich auch in der Vina Science Health and Art League, deren Gründerin, Vorsitzende und Geschäftsführerin sie ist. Sie trainiert in ihrer Wohnung und im Central Park. Sie läuft und tänzelt jeden Morgen um das Reservoir.

Sie ist Franko-Amerikanerin. Mit vierzehn hat sie einen italienischen Grafen geheiratet und kam im folgenden Jahr in die Vereinigten Staaten. Sie sagt, sie habe sich immer von der Unterwelt ferngehalten und immer sauber gekämpft. Sie fühlt sich schikaniert.

Sie ist ein dramatischer Sopran. Wenn sie lange genug auf einen Sandsack eingeprügelt hat, singt sie ein paar Stücke aus Carmen. Sie war zweimal verheiratet – einmal mit besagtem italienischen Grafen und einmal mit Paul La Mar oder »Chicago Kid« Gleason. Sie besitzt eine Nähmaschine und schneidert ihre Kleidung selbst.

»Ich bin einfach ein Wirbelwind«, sagte die Countess.

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Joseph Mitchell

Joseph Mitchell

 (1908 – 1996) est né dans une ferme de tabac et de coton en Caroline du Nord (États-Unis).
Après de brèves études, il attire l’attention d’un éditeur grâce à un reportage et s’installe définitivement à New York en 1929. Il relate alors pour le Morning World et le Herald Tribune, puis pour le New Yorker, où il passera cinquante- huit ans, les rues de la ville et la vie des hommes qui les peuplent. Après la publication de ses articles sous forme de recueils, il s’est vu récompensé par l’Académie des Arts et des Lettres en 1965 et par le prix de littérature de Caroline du Nord en 1984. Sa passion pour ceux qu’il refuse d’appeler les petites gens, son intérêt pour les marginaux et les oubliés du rêve américain, son style élégant et soigné ainsi que son humour caustique en font l’un des inventeurs d’un nouveau journalisme de terrain et lui ont valu le surnom de « parangon des reporters ».

Autres textes de Joseph Mitchell parus chez DIAPHANES
Joseph Mitchell: New York Reporter

Joseph Mitchell

New York Reporter
Aus der größten Stadt der Welt

Traduit par Sven Koch et Andrea Stumpf

relié, 344 pages

Inkl. Glossar

Am Tag des großen Börsenkrachs 1929 trifft Joseph Mitchell in New York ein. Er ist ganze einundzwanzig Jahre alt. Als Reporter für The Herald Tribune und The World-Telegram berichtet er bald über Sportereignisse, Mordprozesse, Unfälle, Trivialitäten – und über seine Lieblingsthemen: Randexistenzen, Spinner, Exzentriker. Ob es eine Preisboxerin ist, ein hochintelligenter Gangster oder ein Voodoo-Zauberer, die Ausläufer der italienischen Anarchistenbewegung, der Lindbergh-Prozess oder Burlesque-Clubs: Sie alle schildert Joseph Mitchell mit Enthusiasmus, Empathie, einer ordentlichen Portion Humor und großer Detailfreude. So entsteht ein vielstimmiges Panorama des New Yorker Stadtlebens aus der Zeit der Großen Depression.

In den frühen Kurzreportagen und Kolumnen der Reporterlegende Joseph Mitchell zeigt sich »die größte Stadt der Welt« en miniature. Ein weiterer Band mit schnurgerader Prosa von »Amerikas größtem Reporter« (WDR 5).