»Stilbildend. Ein Meister seines Genres.«

Die größte Fischereiflotte in der Nähe von New York City sind die dreißig Dragger, kleine Schleppnetzfischer aus Holz, die von Stonington an der Küste Connecticuts auf Fang gehen. Stonington liegt an der Eisenbahnlinie der New York, New Haven & Hartford Railroad vier Stationen nach New London. Im Winter, wenn die Bäume kahl sind, kann man vom Zug aus ein Stück Hafen sehen. Die Stadt liegt auf einer felsigen Halbinsel unweit reicher Plattfischgründe in der Mündung des Fishers Island Sound, sie hat zwei Fischereianleger, und ihr Hafen ist durch drei aufgeschüttete Molen ungewöhnlich gut geschützt. Stonington hat ungefähr zweitausend Einwohner. An den Straßenrändern stehen Ulmen. In vier der engen Straßen – der Water, Main, Church und Elm Street – stehen acht holzverschalte Häuser aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Gärten hinter den Häusern sind mit alten Fischernetzen eingezäunt. Einige Gärtner heben Tang unter die Tomaten und Rochen und Groppen und anderen minderwertigen Fisch unter die Rosen. Einst eine geschäftige und wohlhabende Hafenstadt, ist Stonington mittlerweile etwas heruntergekommen. Von der Kolonialzeit bis zum Bürgerkrieg gab es in der Stadt Werften, Segelmachereien, eine Reeperbahn, eine Harpunenschmiede, eine Schiffszwieback-Bäckerei und eine Walfangflotte sowie von etwa 1790 bis etwa 1895 auch eine Robben­fangflotte. Diese Flotte landete in den 1870er Jahren jährlich hunderttausend Robbenhäute für Jacken, Mäntel und Reise­decken an. Nathaniel Brown Palmer, den manche Geographen für den Entdecker des antarktischen Kontinents halten und nach dem Palmerland benannt ist, und Edmund Fanning, der die Fanning-Inseln im Pazifik entdeckt hat, waren Robbenfänger-Kapitäne aus Stonington; beide waren auf der Suche nach neuen Robbenfelsen. Viele heutige Fischer sind Nachfahren von Wal- und Robbenjägern. Einer der alten Robbenjäger, Mr. Ben Chesebrough, lebt noch. Gleich neben dem Fischereianleger von Johnny Bindloss, am Ende einer Gasse, die zur Water Street hinaufführt, steht eine windschiefe Hütte, in der die Fischer die Zeit totschlagen, wenn es zu stürmisch oder zu neblig ist, um in die Fanggründe hinauszufahren. Dann sitzen sie auf umgedrehten Hummerkörben und lesen den Atlantic Fisherman, trinken Kaffee und spielen Poker, schleifen Messer und grummeln vor sich hin. An solchen Tagen kommt Mr. Ben bisweilen vorbei und erzählt von seinen längst vergangenen Zeiten als Robbenjäger in der Antarktis. Im Frühsommer kamen an den Stränden der antarktischen Inseln Robben in Kolonien zusammen, um ihre Jungen zur Welt zu bringen und zu säugen, und in dieser Zeit schlichen die Robbenjäger hinter den Felsen hervor und töteten sie zu Dutzenden mit möglichst gezielten Schlägen einer Keule aus polierter Connecticut-Eiche. Kugeln hätten die Felle beschädigt.


Zwischen Stonington und dem Fulton Fish Market bestehen enge Beziehungen. Einige der ältesten Handelsgeschäfte wurden von Fischern aus Stonington gegründet, um den Fang von Verwandten und Freunden umzuschlagen, und im Laufe der Jahre erweitert. Aus Stonington stammen zum Beispiel Sam und Amos Chesebro, die Gründer von Chesebro Brothers, Robbins & Graham, die eigentlich Chesebrough hießen, aber die letzten drei Buchstaben strichen, um Zeit und Tinte zu sparen. Diese Firma belegt Stand 1 und ist das größte Unternehmen auf dem Markt. Sam und Amos war ein langes Leben beschieden. Sam starb mit beinahe neunzig. Amos folgte ihm ein paar Jahre später im Dezember 1946 und nur einen Monat vor seinem dreiundneunzigsten Geburtstag. Seine letzten fünfzehn Jahre verbrachte er lesend und sinnierend und schlummernd in einem sonnigen Apartment im obersten Stock eines Hauses in Brooklyn Heights am East River, direkt gegenüber dem Markt; an klaren Vormittagen saß er am Wohnzimmerfenster, ein Glas Whisky mit Wasser neben den aufgestützten Ellbogen, und betrachtete mit einem Fernglas in aller Seelenruhe den Markttrubel, so als blicke er auf seine Jugend zurück. Andere, die aus Stonington und Umgebung kamen und Handelsgeschäfte gründeten oder in bestehende Firmen einstiegen, waren Hiram Burnett, Frank Noyes, A. E. Potter, George Moon, die Haley-Brüder Caleb und Seabury, die Gates-Brüder Stanton und Gurdon sowie die Keeney-Brüder Frank, Gideon und George. Die Fischer aus Stonington fangen jährlich zwanzig Millionen Pfund für den Fulton Market. Sie gehen vorwiegend auf Plattfische und landen fünf Arten an, Sommerflundern, Winterflundern, Gelbschwanzflundern, Hundszungen und Sandbutte, die sich in Aussehen und Geschmack unterscheiden. Auf Speisekarten tauchen sie fälschlicherweise allesamt unter dem kulinarischen Oberbegriff »Seezungenfilet« auf, obwohl keine davon zur Familie der Seezungen gehört. Eine weitere Art, die Baptisten-Flunder, wird auch sehr häufig gefangen, jedoch wieder zurückgeworfen. Außerhalb des Wassers verdirbt sie schnell, daher auch ihr Name.


Die Dragger aus Stonington sind zwischen zehn und fünfundzwanzig Meter lang. Für ihre Länge sind sie sehr breit, und die Bordwand ist ähnlich weit ans Wasser heruntergezogen wie bei Schleppern. Ein Teil der Flotte ist mit Benzinmotoren ausgerüstet, die neueren Boote verfügen über Dieselmotoren. Auf jedem Dragger gibt es eine enge Steuerkabine sowie eine Kajüte mit Kombüse, zwei bis sechs Kojen, einem mit Wachstuch bespannten Tisch, zwei Bänken und einem Kohleherd, auf dem immer eine große, verrußte Kaffeekanne steht. Jedes Boot hat einen Mast und einen Auslegerbaum, an dem die Kurrleinen zum Schleppen des Netzes aufgehängt sind. Außerdem hat jedes eine Winsch zum Einholen des gefüllten Netzes, einen Frachtraum für den Fisch und einen Eisbunker. Die Dragger aus Stonington sind solide und robust und werden regelmäßig überholt. Dennoch sehen sie immer leicht ramponiert aus, wenn sie im Hafen liegen, die Netze mit Tangfetzen kreuz und quer zum Trocknen von den Auslegerbäumen hängen und Möwen um sie kreisen und ab und zu einen Fischrest von Deck auflesen. Die Boote kosten zwischen zehn- und vierzigtausend Dollar. Nicht alle, aber die meisten gehören ihrem Kapitän oder dem Kapitän und der Mannschaft, die aus Portugiesen, Italienern und alteingesessenen Yankees besteht. Auf Fang gehen sie vor dem östlichen Connecticut und dem westlichen Rhode Island und auf dem Schelf südlich von Block Island in Fischgründen, die Mouth, Yellow Bank, Hell Hole und Mussel Bed heißen. Sie fischen sie vorwiegend in Tiefen zwischen fünfzehn und fünfzig Metern. Die Mannschaften bleiben am liebsten nur einen Tag in den Fischgründen. Wenn es das Wetter gestattet, fahren sie vor Sonnenaufgang hinaus und schleppen den ganzen Tag hindurch; noch während sie einen Fang sortieren und den Fisch auf Eis legen und in Fässer verpacken, schleppen sie das Netz schon wieder durchs Wasser. Bei Sonnenuntergang kehren sie zurück und landen die Fässer an – manche am Anleger von Bindloss, der in den längst vergangenen Zeiten des Robbenfangs Hancock-Pier hieß, andere am Anleger von Tony Longo, dem ehemaligen Dampfschiffpier der Stonington-Linie, deren Seitenraddampfer täglich zwischen Stonington und New York verkehrten. Die Fässer werden auf Lastwagen des jeweiligen Anleger­besitzers verladen und noch in derselben Nacht zu den Ständen des Fulton Market gefahren. Gelegentlich steuert ein Boot, das einen besonders guten Fang gemacht hat, nicht den Heimathafen an, sondern fährt durch den Long Island Sound und bringt ihn über Nacht direkt zum Markt. Der Fisch aus Stonington gehört zum frischesten, den wir bekommen.


Ein Dragger ist ein kleiner Trawler. Der Hauptunterschied zwischen den Draggern aus Stonington und den Trawlern, die in Gloucester, Boston und New Bedford liegen und bei jeder ihrer Fangfahrten eine Woche in den Fischgründen vor Nova Scotia bleiben, ist die Größe. Trawler sind zwei- oder dreimal so groß wie Dragger. Auf beiden kommen Scherbrettnetze zum Einsatz, schwere, unhandliche, trichterförmige Netze mit breitem Netzmund, die langsam über den Grund gezogen werden und dabei alle Fische in ihrer Öffnung aufnehmen. Das von einem durchschnittlichen Stonington-Dragger geschleppte Netz ist fünfunddreißig Meter lang. Der Netzmund ist fünfundzwanzig Meter breit, zieht sich beim Nachschleppen aber auf die Hälfte zusammen. Er wird von zwei Flügeln, den Scherbrettern, offen gehalten, die etwa so groß wie Haustüren sind und zu beiden Seiten des Netzmunds schräg ausgestellt werden, damit sie der Wasserdruck nach außen spreizt. Zieht ein Dragger ein solches Netz mit einer Geschwindigkeit von etwa drei Stundenkilometern durchs Wasser, kann er in einer Stunde auf einer Fläche von vier Hektar sämtlichen Fisch vom Meeresboden holen. Scherbrettnetze verfangen sich leicht an Hindernissen, und ein hängengebliebenes Netz muss in der Regel aufgegeben werden. Netze sind teuer, und selbst ein kleines, mit selbstgebauten Scherbrettern aus­gestattetes Netz kostet einhundert Dollar. Ein Kapitän aus Stonington hat einmal an einem Vormittag drei Netze verloren. Daraufhin fuhr er nach Hause, legte sich ins Bett und blieb bis Sonntag liegen, nur um zum ersten Mal seit Jahren in die Kirche zu gehen und auf seinem Weg durch den Mittelgang laut zu klagen: »Betet für mich! Betet für mich!«


Auf dem Meeresboden vor Stonington gibt es sehr viele Wracks, Felsenriffe und andere Hindernisse. Am schlimmsten ist es im Hell Hole, einem gut fünfzehn Quadratkilometer großen Gebiet im Block Island Sound, in dem kreuz und quer mehrere Küstenschifffahrtswege verlaufen. Dort auf dem Grund liegen zwei Dutzend Wracks, an denen immer irgendein verrottendes Schleppnetz hängt. Hat ein schwerer Sturm oder Hurrikan wieder einmal ein Wrack auseinandergebrochen und den Inhalt herausgespült, finden sich in einem Netz aus dem Hell Hole, das auf das Deck eines Boots geleert wird, auch menschliche Knochen – meistens ein Schädel oder Hüftknochen, die offenbar am salzwasser­beständigsten sind. Auf dem Grund des Mussel Bed, einem Fischgrund im offenen Meer vor Block Island, befinden sich einige ausgedehnte Bänke von Pferdemuscheln, deren schartige, scharfe Schalenränder nach oben ragen. Die Kapitäne der Schleppnetzfischer müssen die Lage dieser Muschelbänke kennen und mit ihren sich ständig verändernden Formen vertraut sein, und sie tun gut daran, sie aufmerksam zu umschiffen. Ein Netz, das die Bänke auch nur streift, kommt mit unzähligen Löchern und Rissen, durch die Fische entwischt sind, nach oben. Auch Schiffswracks liegen dort unten. Eines davon ist der Collier Black Point, ein Kohlefrachter, der im Mai 1945, in der letzten Woche des Kriegs in Europa, von einem deutschen U-Boot torpediert wurde. Das U-Boot befindet sich ganz in der Nähe – es wurde von einem Zerstörer mit Wasserbomben versenkt, als es zu entkommen versuchte. Die Yellow Bank ist ein schmaler Fischgrund vor der Küste von Long Island, der sich über knapp zehn Kilometer vom Leuchtturm bei Watch Hill bis zum Weekapaug Point erstreckt. Stellenweise siedeln dort auf dem Meeresboden große Kolonien von Schwämmen – eine Schwammart, die schleimige gelbe Klumpen bis zur Größe eines Kohlkopfs bildet, und eine Spezies mit kleinen labbrigen Tentakeln, die Tote Meerhand. Beide sind wertlos. Schwämme beschädigen die Netze nicht, aber sie verstopfen sie und müssen alle einzeln aus dem Fang aussortiert und ins Meer zurückgeworfen werden, was sehr zeitaufwändig ist. Vor einiger Zeit hievte man ein Netz an Bord, das durch eine Schwammkolonie geschleppt worden war, und zog darin ungefähr fünfhundert Pfund Fisch hoch, der unter fast zwei Tonnen an Schwämmen begraben lag. In Mouth, vor der Mündung des Thames River südlich von New London, gibt es ausgedehnte Tangfelder, vorwiegend von Blasentang, jenem mit Schwimmbläschen besetzten schwärzlichem Tang, auf den in den Auslagen von Fischrestaurants lebende Hummer gebettet werden; diesen Tang wirft man genau wie die Schwämme wieder über Bord. Während des Kriegs drangen in alle Fanggründe außer den Mouth feindliche U-Boote ein, und die Flugzeuge von Army und Navy warfen hunderte Wasserbomben ab, vor allem über dem Mussel Bed. Einige schwerere Bomben, meist Sechshundertfünfzigpfünder, blieben im Schlamm stecken, ohne zu detonieren, und da liegen sie noch immer. Sie stellen auf lange Zeit eine Gefahr dar, genau wie die deutschen Landminen auf französischen Äckern. Im Hell Hole und im Mussel Bed gibt es Stellen, wo sie vermutet werden, und die Fischer meiden sie. Man nennt sie Bombenbänke. Früher waren die Mannschaften immer ganz aufgeregt, wenn eine Winsch zu kreischen begann und Fehlzündungen hatte, denn das wies auf einen besonders guten Fang hin, und stets rief einer »Da zappelt der Zaster«, als sie das Netz einzuholen begannen. Heute ist das Geräusch einer kreischenden Winsch Anlass zur Sorge, denn das Netz könnte zwar voller Fisch sein, aber ebenso könnte eine Bombe darin liegen. Fünf Dragger – die Carl F., die George A. Arthur, die Gertrude, die Marise und die Nathaniel B. Palmer – haben in ihren Netzen schon Bomben hochgehievt. Die ersten vier hatten die Netze bereits an Bord, ehe man die im Fisch verborgenen Bomben entdeckte. Statt sie zurück ins Meer zu werfen, fuhr jeder in den nächstgelegenen Hafen, wo ein Sprengkommando der Navy gerufen wurde. Die Bombe, die der fünfte Dragger, die Palmer, herausfischte, war gut sichtbar, doch sie explodierte, als das Netz aus dem Wasser gehievt wurde und die Mannschaft sie noch anstarrte und überlegte, was sie damit machen sollte. Sie zerfetzte den Dragger und drei der vier Männer, nur der vierte wurde seltsamerweise unverletzt durch die Luft gewirbelt.


Wegen dieser Gefahren – Felsen, Schiffswracks, Muschelbänke, Schwämme, Blasentang und Bomben – muss ein Dragger-­Kapitän den Grund, über den er schleppt, ganz genau kennen und jederzeit wissen, wie der Meeresboden unter ihm beschaffen ist. Das Ansehen eines Kapitäns bei den anderen und die Mengen an Eis und Schiffsdiesel, die er auf Pump bekommt, hängen ganz maßgeblich von seiner Kenntnis des Meeresbodens und seinem sorgsamen Umgang mit der Ausrüstung ab, nicht von den Fisch­mengen, die er anlandet. Ein rücksichtsloser Kapitän mag das Netz ohne Bedenken über den Grund schleppen und dabei gewaltige Fischmengen einholen, aber früher oder später wird er so viele Netze verloren haben oder muschelzerfetzt zurückbekommen, dass die Kosten den Gewinn auffressen. Der Stoningtoner Kapitän mit dem höchsten Ansehen ist ein ruhiger Mann mit traurigem Blick, ein Yankee aus Connecticut namens Ellery Franklin Thompson. Er stammt aus einer Familie, die seit dreihundert Jahren in diesen Gewässern fischt, Muscheln erntet, Krabben fängt und Hummerkörbe setzt.


Ellery – er behauptet, Kapitän Thompson oder Mr. Thompson sagt nur, wer etwas von ihm will – ist der Kapitän und Besitzer der Eleanor, eines Draggers mit Benzinmotor und einer normalerweise drei Mann starken Besatzung, ihn eingeschlossen. Ellery ist siebenundvierzig Jahre alt und seit dreißig Jahren Fischer. Er ging von fünf nah beieinander liegenden Hafenstädten in Connecticut aus auf Fang – New London, Groton, Noank, Mystic und Stonington – sowie von zwei Städten in Rhode Island, Newport und Point Judith. Seit 1930 ist Stonington sein Heimathafen. Die Eleanor liegt dort am Bindloss-Anleger, aber Ellery selbst lebt gut zwanzig Kilometer entfernt in New London und fährt mit dem Auto hin und her. Er wohnt in der Crystal Avenue in einem zweistöckigen, schindelverkleideten Viergiebelhaus. Seine verwitwete Mutter, Mrs. Florence Thompson, führt ihm den Haushalt. Zuvor hatte er jahrelang in einer Drahtgeflechtkoje an Bord der Eleanor übernachtet und selbst gekocht und war nur sonntags nach Hause gefahren, aber seit ein paar Jahren schläft er wegen seines Rheumas besser in einem Bett. Er habe allerdings festgestellt, sagt er, dass das häusliche Leben einen Nachteil hat. Er hat sich selbst das Trompetespielen beigebracht. Als er noch auf der Eleanor wohnte, verbrachte er viele Abende allein in der Kajüte und spielte Kirchenlieder und patriotische Musik. Wenn er etwas Zeit hatte, ging er sogar draußen in den Fanggründen unter Deck und übte. Eines Nachmittags, als er im Hell Hole in dichtem Sommernebel herumstocherte, bekam er es so satt, das Nebelhorn zu blasen, dass er seine Trompete herausholte und sich an Deck stellte und immer wieder die Nationalhymne spielte, womit er jedoch die Mannschaften auf den anderen, im Nebel herumgeisternden Schiffen in Aufregung versetzte und befürchten ließ, ein Ausflugsdampfer hielte auf sie zu. Nachdem er dazu übergegangen war, zu Hause zu schlafen, wollte er abends weiter Trompete spielen, doch nach kurzer Zeit musste er aufhören, da es die Gesundheit seiner Mutter beeinträchtigte. »Damals«, erzählt er, »hab ich vor allem drei Kirchenlieder geübt – ›In finstrer Gruft er lag‹, ›Es ist ein Born, draus heil’ges Blut‹ und ›Welch ein Freund ist unser Jesus‹. ›Welch ein Freund‹ konnte ich schon ganz ordentlich. Eines Abends nach dem Essen ging ich wie gewöhnlich in die Stube, wo Ma auf dem Sofa saß und das Ladies’ Home Journal las, setzte mich auf einen Sessel und fing an, ›Welch ein Freund‹ zu üben. Ich nahm mir das Lied zum zweiten oder dritten Mal vor, als Ma plötzlich zu heulen anfing. Ich setzte die Trompete ab und fragte, was um Himmels willen los sei. ›Die Trompete ist es‹, antwortete Ma. ›Die macht mich traurig.‹ Sie behauptete, sie würde davon so traurig, dass sie Alpträume bekäme und sogar abnähme. Unter diesen Umständen wollte ich in Zukunft nur noch sechs bis sieben Kilometer draußen auf See Trompete üben.«


Ellery ist einen Meter fünfundsiebzig groß. Er ist schlank und wirkt fast schmächtig. An Bord der Eleanor trägt er kniehohe Stiefel, eine vom Blut und Schleim der Fische fast lederartig gewordene Hose, ein dickes kariertes Wollhemd, einen Caban und einen verbeulten Schlapphut, in dessen Hutband stets Zahn­stocher und Bleistiftstummel stecken. Er geht stark gebeugt, wobei er vor allem auf seine linke, vom Rheuma geplagte Schulter achtet, und er lässt sich Zeit. »Wenn ich hektisch werde«, erklärt er, »kommt mir bloß dauernd mein Essen wieder hoch.« Eile mag er grundsätzlich nicht, und das Leben ist ihm überhaupt etwas zu schnell geworden. Einmal hat er sogar einem Mann mit Rauswurf gedroht, weil er zu viel gearbeitet hatte. Ellery hat ein schmales, kantiges Gesicht, das bis auf die Traurigkeit, die aus den tief in den Höhlen liegenden Augen spricht, teilnahmslos wirkt. Er hat abstehende Ohren, eine lange Nase und einen Schnurrbart. Er spricht mit einem angenehm nasalen Ton, und beim Sprechen hüpft sein Adamsapfel auf und ab. Eine über neunzigjährige Frau aus Stonington, ein echtes Original, hat einmal zu ihm gesagt, er habe ein altmodisches Gesicht. »Die Männer heute haben alle entweder leere oder gramerfüllte Gesichter, so als hätten sie vor was Angst«, sagte sie. »Sie dagegen sehen aus wie die alten Yankees früher, als ich ein junges Ding war.«


»Dass Sie sich da nicht täuschen«, entgegnete Ellery. »Ich glaub, ich hab auch vor was Angst.«


»Aber wovor denn?«, fragte sie.


Ellery zuckte die Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. »Bei Gott, das wüsste ich gern selber.«


Ellery ist gesellig, aber zurückhaltend. Bei schlechtem Wetter sitzt er oft den ganzen Tag mit den anderen Fischern zusammen in der Hütte am Fischereianleger und hört mit Vergnügen den Fachsimpeleien und ihrem Seemannsgarn zu, sagt selbst jedoch nur wenig. Wenn er doch einmal gesprächig wird, dann ist er oft ironisch. Er ist zutiefst skeptisch. Einmal sagte er, dass er mit zunehmendem Alter immer mehr glaube, der Menschheit sei nicht zu helfen. »Ich lese den Mist, der in der Zeitung steht«, sagt er, »und manchmal, zum Beispiel wenn ich in einem Lokal was esse und nicht anders kann, höre ich Radio, und dann kommt’s mir so vor, als führten Blinde die Blinden vom Regen in die Traufe, von Ewigkeit zu Ewigkeit. So wie bei mir und Doc Clendening. Im Day aus New London gab’s eine Kolumne, die hieß ›Essen und Gesundheit‹. Sie wurde von Dr. Logan Clendening geschrieben, und der war stets gut gelaunt und fröhlich. ›Immer schön lächeln‹, sagte er immer. ›Sorgen bringen einen auch nicht weiter. Ein herzhaftes Lachen‹, sagte er, ›ist die beste Medizin. Lachen hilft bei zu hohem Blutdruck. Und bei zu niedrigem ebenfalls. Je mehr man lacht, desto länger lebt man.‹ Wenn es mir mal schlecht ging, habe ich die Kolumne gern gelesen. Die hab ich immer als Erstes aufgeschlagen. Hat mich wieder aufgerichtet. Und dann, eines Morgens, nahm ich die Zeitung in die Hand und las, dass ›Essen und Gesundheit‹ eingestellt würde, weil sich Dr. Clendening umgebracht hat.«


Ellerys Sicht auf die Welt ist von zwei Dingen geprägt: seinem Rheuma und der großen Wirtschaftskrise. Er gehört zu jenen, die die Depressionszeit nicht vergessen können. In den dreißiger Jahren waren die Fischpreise im Keller, und die Fischer mussten aberwitzige Risiken eingehen und ihre Fangmengen verdoppeln und verdreifachen, nur um gerade so über die Runden zu kommen. Ellery hatte einen sechs Jahre jüngeren Bruder, Morris, der ebenfalls Dragger-Kapitän war. Als er 1931 bei einem Dezembersturm vor Newport auf dem Meer war, krachte eine riesige Welle an Deck und schlug Morris bewusstlos. Als das Wasser abfloss, riss es ihn mit ins Meer, und er ertrank. »Er hätte überhaupt nicht auslaufen sollen«, sagt Ellery. »Aber der arme Junge hatte gerade eine Familie gegründet und bei den immer weiter fallenden Fischpreisen musste er sich abstrampeln, um sie zu ernähren.« Ellery, sein Vater und mehrere Freunde fuhren noch während des Sturms mit der Eleanor hinaus, um mit Netzen nach Morris’ Leiche zu suchen. Am Morgen des dritten Tags, als sie schon aufgeben und wieder den Hafen anlaufen wollten, fischten sie ihn schließlich aus dem Wasser.


Ellery ist der selbstgenügsamste Mann, den man sich vorstellen kann. Er hat keine Frau und kümmert sich weder um Politik noch um Religion. »Ich wollte mit dem Heiraten so lange warten, bis ich ein großes Schiff habe«, meint er. »Als ich mir das Schiff dann gekauft und abbezahlt hatte, kam die Depression. Die wenigsten Frauen wollen dreimal am Tag Fisch essen und mehr hatte ich nicht zu bieten. Also hab ich’s wieder aufgeschoben, auf bessere Zeiten. Als die Zeiten dann besser wurden, bekam ich Rheuma. Und bei einem Mann Mitte vierzig mit chronischem Rheuma ist nicht mehr viel Romeo übrig.« Ellery gehört nur einer einzigen Organisation an. »Ich bin Freimaurer«, sagt er. »Abgesehen davon, bin ich bloß Mensch.« Sein Vater war Republikaner, seine Mutter ist Demokratin. Er sagt, er sei niemals Anhänger einer Partei gewesen und sei auch noch nie zur Wahl gegangen. Seine Familie gehört den Baptisten an, doch er behauptet, er sei ­irgendwie darum herumgekommen. »Aber ich mag Kirchen­lieder«, sagt er, »vor allem die alten, düsteren. Früher bin ich in die Kirche gegangen, um die schönen alten Lieder zu hören, aber wegen den endlosen Predigten hab ich’s sein lassen.«


Ellerys Vorfahren sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits – seine Mutter war eine Chapman – kamen in den 1630er Jahren aus England und siedelten in der Nähe der Mündung des Connecticut River, vermutlich in der Saybrook Colony. Beide Familien blieben im Osten Connecticuts und lebten auch später überwiegend in Küstennähe, und die meisten Männer waren Fischer, Seeleute oder Schiffbauer. Einige wurden auch Walfänger oder Robbenjäger. »Ich habe viel Verwandtschaft«, meint Ellery, »aber weiß der Kuckuck, wozu das gut sein soll.« Geboren wurde Ellery in Mystic, etwa acht Kilometer östlich von Stonington. Als er zehn war, zog die Familie nach New London. Er ist eines von vier Kindern, von denen zwei, Morris und die ältere Schwester Louise, schon tot sind. Eleanor, die jüngere Schwester, ist mit einem Rangierer bei der New York, New Haven & Hartford Railroad verheiratet. Nach ihr ist die Eleanor benannt. Ellerys Vater, Frank Thompson, der 1936 starb, war Fischer, übernahm bisweilen aber auch andere Arbeiten. Ein Jahr lang war er Quartiermeister auf einem bekannten Passagierdampfer im Long Island Sound, der City of Worcester. In einem anderen Jahr war er Steuermann auf dem Hochseeschlepper Minnie der Thames Tow Boat Company, der Kohlekähne von Norfolk in Virginia nach New London schleppte. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg befehligte er das Patrouillenboot Gypsy, das Schiffe durch Minenfelder vor dem Hafen von New London geleitete, und eine Zeitlang betrieb er eine Flussfähre auf dem Thames River zwischen Groton und New London. Die meiste Zeit jedoch ging er mit Handleinen oder Schleppnetz vor der Thames-Mündung auf Fischfang. Er war einer der ersten Fischer in Amerika, die das aus Großbritannien stammende Scherbrettnetz verwendeten. »Pa war ein unruhiger Geist, aber anständig und er hat sich immer um seine Familie gekümmert«, sagt Ellery. »Er hatte nur eine schlechte Angewohnheit. Er spielte Posaune. Damit richtete er fast so viel Schaden an wie ich mit der Trompete.«


Der Dragger von Ellerys Vater, die zehn Meter lange Florence, die nach Mrs. Thompson benannt war, lag am alten Fischkai in New London. »Die glücklichste Zeit meines Lebens hab ich auf diesem Kai verbracht«, erzählt Ellery. »Für einen Jungen war das der schönste Spielplatz. Und gleich gegenüber lagen die Gleise, die zum Bahnhof der New York, New Haven & Hartford Railroad führten. Wenn man keine Lust mehr auf Schiffe hatte, konnte man dort hingehen und zusehen, wie die Güterzüge nach Boston mit einem Höllenlärm durchdonnerten. Ich hasste die Schule. Und damit meine ich nicht, dass ich sie nicht mochte. Nein, ich hasste sie. Was immer ich dort gelernt haben mag, auf dem alten Fischkai hab ich mehr gelernt. Zum Beispiel warf Pa vom Kai ein Fass ins Wasser und zeigte mir, wie man Schwertfisch – das war das Fass – harpuniert, ohne sich selbst in der Leine zu verheddern. Und ein anderer Mann brachte mir bei, wie man kleine Holzstöckchen in die Gelenke von Hummer­scheren steckt und sie blockiert, damit sich die Tiere beim Transport nicht gegenseitig umbringen. Ich habe gelernt, wie man Fisch schuppt und ausnimmt, Netze flickt, Karten liest, sich Angelhaken aus der Hand operiert, Krabben packt und alle möglichen Knoten, Steke, Schläge und Spleiße knüpft. Auf dem Kai gab’s ein paar sehr alte Fischer, die waren zum Teil schon mit Jona im Wal gewesen, so wie sie daherredeten. Sie fuhren kaum noch raus, sondern saßen die meiste Zeit rum und quasselten, lästerten und schimpften über Gott und die Welt. Sie kannten unzählige uralte Schwänke und Schnurren. Von ihnen lernte ich zweierlei. Ich lernte das Wetter zu deuten, und ich lernte den Namen Gottes eitel nennen. Wie auf allen Fischkais gab es auch dort eine Hütte mit einem Petroleumofen, und da lernte ich Kaffeekochen. Das ist wichtig. Nichts taugt weniger als ein Fischer, der keinen guten starken Kaffee kochen kann. Im Sommer belegte der Dampfer nach Block Island eine Seite des Kais. Er bediente täglich drei Züge. Damals kamen die Reichen zur Sommerfrische nach Block Island. Bei wem es für Newport nicht reichte, der mietete sich in einem der großen, aus Holz gebauten Hotels auf Block Island ein. Ich hab den Leuten gern zugesehen, wie sie den Dampfer bestiegen oder verließen. An besonderen Tagen, etwa am Unabhängigkeitstag, spielte sogar eine Kapelle an Bord. Die erste betrunkene Frau, die ich sah, war eine alte Dame, die vom Block-Island-Dampfer getragen wurde. Sie hatte ganz weißes Haar, und sie hatte sich so abgefüllt, dass sie Männchen und Weibchen nicht mehr unterscheiden konnte. Dabei war sie ein altes Mütterlein. Das war eine Offenbarung für mich. Zur selben Zeit, ich muss elf oder zwölf gewesen sein, gab es in der Nähe des Bahnhofs ein griechisches Café, das auch Zimmer vermietete, und manchmal beobachtete ich eine Frau, die am Fenster eines der vermieteten Zimmer saß; sie winkte Männer, die unten vorübergingen, mit dem Finger zu sich oder zwinkerte ihnen zu. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was sie da trieb. Die natürlichste Sache der Welt. Wenn die Boote draußen auf Fischfang waren und sich am Kai nichts rührte, setzte ich mich in die Hütte und las Frank-Bücher. Von diesen Jungenbüchern gab’s eine ganze Reihe. ›Frank auf einem Kanonenboot‹, ›Frank vor Vicksburg‹, ›Frank auf dem unteren Mississippi‹, ›Frank in den Wäldern‹ und ›Frank der Naturforscher‹. Ein paar Frank-Bücher stehen noch bei mir zu Hause im Regal, und ab und zu nehme ich eins zur Hand. ›Frank auf dem unteren Mississippi‹ zum Beispiel habe ich mindestens dreißig Mal gelesen. Mit sechzehn kam ich in die Highschool, aber da hielt ich es nicht lang aus. Ich ging zu Pa und sagte: ›Wenn ich noch einen Tag diesen Mist anhören muss, nur noch einen Tag dieses amo, amas, amat, dann ersäuf ich mich.‹ Da meinte Pa, ein ungebildeter lebender Sohn sei ihm lieber als ein gebildeter toter, und am nächsten Morgen ging ich mit ihm auf Fangfahrt.«


Nachdem Ellery mehrere Jahre mit seinem Vater gefischt hatte, borgte er sich 1920 von einem Fischhandelsunternehmen in New London viertausend Dollar und kaufte sich einen Dragger, die Grace and Lucy. Er lebte nur von Fisch und schwarzem Kaffee, sparte an allen Ecken und Enden, fuhr bei jedem Wetter hinaus und zahlte das Boot in einem Jahr und zehn Monaten ab. Er mochte die Grace and Lucy, aber sie war topplastig, und sie rollte und stampfte. Daher verkaufte er sie 1924 und erwarb ein anderes Boot, das er nach seiner Schwester Louise taufte. »Auch die Louise neigte zum Rollen«, sagt er, »genau wie die Grace and Lucy. Sie war dasselbe in Grün.« Beide Boote waren kleine Schleppnetzfischer und maßen gerade einmal dreizehn Meter. Ende 1926 beschloss Ellery, ein neues und größeres zu bauen. »Ich wollte gar nichts Besonderes«, meint er, »aber auch nicht irgendeinen Kahn. Ich wollte ein solides, schlichtes Arbeitsboot, das gut im Wasser liegt und dem Netz sagt, wo’s lang geht. Es sollte möglichst viel im Vorderschiff untergebracht sein, Motor, Winsch, Kajüte, Steuerhaus, Rettungsboot, damit ich heckseitig ein großes Deck für das Netz und den Fisch hatte. Ich hab mich bemüht, das den Werftleuten klarzumachen, richtigen Schiffbauern, aber die hatten da ganz andere Vorstellungen. Die wollten mir ein Boot mit so viel arbeitssparender Ausrüstung aufschwatzen, dass man vor lauter Arbeitssparen nicht mehr zum Arbeiten kommt. Da nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und beschloss, mir selbst eins zu bauen – wie einer, dem man ein schreckliches Verbrechen anhängt und der sich dann vor Gericht selbst verteidigt.« Ellery beschäftigte sich eingehend mit mehreren Draggern aus Noank und Stonington, die sich seiner Meinung nach bei schwerer See besonders gut steuern ließen, und er ging zu den Werften, die sie gebaut hatten, und studierte die Baupläne. Anschließend setzte er sich mit einer einfachen Schieblehre und einem Lineal hin und arbeitete die Pläne für die Bordausstattung und Decksanordnung eines knapp siebzehn Meter langen Draggers aus, der Eleanor heißen sollte. Gezeichnet hat er sie auf die Rückseite von zwei zerknitterten Küstenkarten. Diese Pläne zeigte er seinem Freund Ernest C. Daboll. Mr. Daboll war und ist Herausgeber des New England Almanac and Farmer’s Friend, der meist nur »Daboll’s Weather Book« genannt wird und mit wenigen Unterbrechungen seit 1772 von der Familie Daboll in New London veröffentlich wird. Viele alte Fischer vertrauen der Wettervorhersage darin mehr als der im Radio. Zudem ist Mr. Daboll Landvermesser und technischer Zeichner. Er korrigierte Ellerys Pläne und ließ Blaupausen anfertigen. Im Frühjahr 1927 verkaufte Ellery die Louise, holte sein Erspartes von der Bank, lieh sich noch etwas Geld dazu und ging mit den Blaupausen zur Rancocas-Werft in Delanco, New Jersey, in der Nähe von Camden. »Die Eleanor lief Mitte Mai vom Stapel«, erzählt Ellery. »Mein Gott, was war ich nervös. Als ich mit ihr die Küste entlangfuhr, hatte ich eine Flasche Gin dabei für den Fall, dass sie eine Enttäuschung war, aber ich hab die Flasche nicht mal aufgemacht. Zu meiner großen Freude war sie gut. Nein, sie war perfekt.« Ellery möchte nicht verraten, wie viel die Eleanor gekostet hat. »Es kommt gar nicht drauf an, was sie gekostet hat«, meint er. »Sie wird langsam alt und klapprig, aber ich würd sie selbst dann nicht hergeben, wenn ich bekäme, was sie gekostet hat oder was um den Dreh. Ich würd sie nicht mal für fünfzehntausend Dollar verkaufen.«


Mit seinen ersten beiden Booten war Ellery ständig unterwegs. Machte von Martha’s Vineyard aus das Gerücht die Runde, es gäbe vor Gay Head gewaltige Kabeljauschwärme, dann tankte er voll und fuhr hinauf. Hörte er, dass vor Montauk Point Schwertfische gesichtet wurden, die sich mit Makrelen vollfraßen, dann schärfte er die Eisen seiner Harpunen und stach in See und ging auf Jagd nach ihnen. Eines Morgens fuhren er und sein Steuermann, damals noch auf der Louise, hinaus zum Jakobsmuschelfischen mit der festen Absicht, noch am Abend zurück zu sein. Doch dann kreuzten sie drei Wochen längs der Küste, ernteten bis Sonnenuntergang Muscheln und brachten sie in den nächsten Hafen, damit ihr Fang auf schnellstem Wege zum Fulton Market gelangte. Sie kamen bis in die Sheepshead Bay, ehe sie umkehrten. »Wenn es bei einem Fischereianleger in den Häfen eine Flüsterkneipe gab, und die gab’s in der Regel«, erzählt Ellery, »dann liefen wir da ein und machten mit dem dortigen ­Gesindel einen drauf. Ich erinnere mich an eine Kneipe unten an der Great South Bay, die von drei Schwestern betrieben wurde. Die waren alle rothaarig und alle verwitwet. Die hießen die drei lustigen Witwen. Das war ein Lotterleben, und ich hab’s genossen.« Ellery merkte, dass ihm die Eleanor viel mehr am Herzen lag als seine anderen Boote. Kurz nachdem er sie übernommen hatte, hörte er mit dem Umherziehen auf und konzentrierte sich auf die Fischgründe Mouth, Yellow Bank und Hell Hole.


Es gibt zwei Arten von Dragger-Kapitänen: diejenigen, die jeden Tag hinausfahren, sofern es das Wetter zulässt, und überall ihre Netze auswerfen im Glauben, dass sie schon auf Fisch stoßen, wenn sie nur genug Bodenfläche bearbeiten; und die anderen, die sich die Tage sorgfältig aussuchen und dort schleppen, wo sich ihrer Erfahrung nach der Fisch sammelt. In seiner Jugend gehörte Ellery zur ersten Art. Jetzt ist er unter allen Fischern aus Stonington das beste Beispiel für die zweite Art. Er verfügt über umfangreiches Wissen, wie sich die sechs Plattfischarten, die in den Fanggründen vor Stonington heimisch sind, zu welchen Zeiten und unter welchen Wetterbedingungen verhalten. Folglich kann er ihre Wanderungen vorhersagen, manchmal sogar auf den Tag genau. Winterflundern zum Beispiel, die das feinste Fleisch aller Plattfische haben, halten sich im Sommer im kalten Wasser vor der Küste auf. Irgendwann im Herbst kommen sie zu Millionen zum Laichen in seichtere Gewässer. Während dieser Wanderungen gehen sie in großer Zahl in die Netze. Ellery hält immer nach Winterflundern Ausschau. Er kennt ihre Wanderrouten und die Plätze, wo sie sich am besten fangen lassen. Sein Steuermann Frank Muise und Charlie Brayman, der Bestmann, sind überzeugt, dass er wie ein Plattfisch denken kann. »Ellery braucht nicht viel Schlaf«, meint Brayman. »Vier, fünf Stunden genügen ihm. Die übrige Nacht liegt er im Bett und stellt sich vor, er ist ein großes Flundermännchen irgendwo am Meeresgrund. Wenn die Winterflundern unruhig werden, wird er’s auch. Und eines Morgens taucht er mit seltsamem Blick am Anleger auf und behauptet, die Winterflundern wären letzte Nacht in die Buchten gekommen. Woher er das weiß, frage ich ihn dann. Und er sagt nur: ›Lass uns zum Hell Hole rausfahren und in der Fünfzehn-Faden-Senke vor dem Nebraska Shoal einen Hol machen.‹ Oder: ›Fahren wir zum Mouth und schleppen zwischen Bartlett Reef und North Dumpling.‹ Er irrt sich nie. Wir fahren dahin, wo er sagt, und immer machen wir einen guten, fetten Fang.« Ellery hat eine schlichtere Erklärung parat. »Ich schau mir das Wetter an«, sagt er, »und danach richte ich mich.«


Ellery ist auch ein sehr geschickter Wrackfischer. Wracks ziehen viele Fische an. Einige Arten fressen die Weichtiere, Krustentiere, Meereswürmer und andere Organismen, die sich dort ansiedeln, andere ernähren sich von den Fischen, die jene fressen. Wenn den Fischern sonst kaum etwas ins Netz geht, dann wagen sich die mutigeren unter ihnen an die Wracks heran und schleppen dort. Durch eigene Erfahrung und vom Hörensagen weiß Ellery seit geraumer Zeit, wo die Wracks im Mouth und im Hell Hole liegen, welche Form sie haben und in welchem Zustand sie sind – ob sie auf dem Boden aufsitzen, seitlich gekippt oder zerbrochen sind. An ruhigen, klaren Tagen, an denen er anhand von Felsen, Bojen und Landmarken die Position genau bestimmen kann, fährt er hinaus und schleppt sein Netz methodisch an ­mehrere dieser Wracks heran. Die anderen sind so verrottet und ihre Einzelteile so tückisch verstreut, dass selbst er sich nicht an sie heranwagt. Für gewöhnlich beginnt er bei der Larchmont, einem Seitenraddampfer, der im Passagierverkehr zwischen Providence und New York fuhr und in einem Schneesturm in der Nacht des 11. Februar 1907 mit dem Dreimastschoner Harry Knowlton kollidierte, wobei mehr als einhundertdreißig Menschen ertranken. Seine Runde beschließt er mit einem Kohlekahn, der im Mai 1944 leckschlug und sank. Um diesen Kahn herum schleppt er das Netz aber mehr wegen der Kohle, die bei Stürmen aus dem Wrack gespült wird, als wegen des Fischs. Mit der Kohle beheizt er den Ofen in der Kajüte der Eleanor. An manchen Abenden packt er auch den Rücksitz seines Autos mit Kohle aus dem Hell Hole voll und bringt sie nach Hause. 


Ellery ist ein beinahe übervorsichtiger Kapitän, und er sagt, das läge am Wrackfischen. »Einmal hab ich einen Bauunternehmer gehört, der erklärte, wie man einen Graben durch einen Friedhof zieht«, erzählt er. »Das hat mich ans Wrackfischen erinnert. Immer wieder sind bei einem Hol Knochen im Netz, und mehrfach waren auch schon Schädel oder Schädelteile dabei. Grundgütiger! Einmal habe ich sogar einen Kieferknochen mit neun Zähnen gefunden, und jeder Zahn hatte eine Goldfüllung, einige sogar Füllungen oben und an der Seite. Wem die auch gehört haben – einem er oder einer sie, das konnte ich nicht sagen –, die arme Seele hat jedenfalls viel Zeit beim Zahnarzt verbracht. Einmal war ich mit meinem Bruder Morris beim Schleppen. Ich war unter Deck und aß zu Mittag, während Morris oben war und beim Fangsortieren in einem Knäuel Seetang einen Schädel fand. Der Schädel war völlig von Tang umwuchert, so dass er ganz geblieben war – sogar der Unterkiefer hing noch dran, und man konnte den Kiefer mit der Hand öffnen und schließen. Morris stand da und starrte auf den Schädel und klappte den Kiefer auf und zu, als ich an Deck kam und einen großen saftigen Pfirsich aß. Morris blickte mich an, dann den Kiefer mit den Zähnen, und dann übergab er sich.


Mit dem Netz zieht man jede Menge komisches Zeug raus. Einmal war sogar ein Eimer mit Schiffsfarbe dabei, ein Zwanzig-Liter-Eimer mit Schlachtschifffarbe von der U.S. Navy. Wir stemmten den Deckel auf, und ich sah sofort, dass die Farbe vollkommen in Ordnung war. Vermutlich hatte sie einem Matrosen plötzlich nicht mehr gefallen und er schmiss den Eimer über Bord. Wir haben sie dann für die Eleanor verwendet. Ein anderes Mal hatte ich ein rosa Spitzenkleidchen im Netz. Wahrscheinlich hatte sich im Sommer eine Frau auf einer Yacht ein paar Whisky Sour genehmigt und sich danach ausgezogen. Ja, das war wirklich hübsch. Rosen und Schmetterlinge waren darauf. Wir knoteten es an ein Stag und ließen es den ganzen Sommer über wie einen Wimpel flattern. Johnny Bindloss meinte, dass eine Meerjungfrau aus Newport es verloren haben musste. ›Drüben bei Newport‹, sagte er, ›tragen sogar die Meerjungfrauen rosa Hemdchen.‹ In der Prohibitionszeit wurde auch in Ostconnecticut Rum geschmuggelt. Ein paar von den Schmugglern waren aus Kanada, andere kamen von hier. Sie brachten ihren Schnaps immer mit Bojen in den Untiefen im Hell Hole aus. Die Flaschen wickelten sie in Stroh und nähten sie in wasserdichte Segeltuchtaschen ein, immer vierundzwanzig pro Tasche. Bojentaschen hießen die. Manchmal riss ein Sturm eine Flasche aus der Tasche, und die kullerte dann am Meeresboden herum. An einem heißen Augustnachmittag hatten wir mal eine ganze Bojentasche im Netz. Vierundzwanzig Flaschen von diesem Scotch in viereckigen Flaschen. Die Mannschaft wollte sofort prüfen, ob der Inhalt noch gut war, aber ich sah das Ende schon kommen und stritt mit ihnen rum und schlug vor, dass wir sie für kalte Wintertage aufheben. Also haben wir sie gebunkert. Fünfzehn Minuten später klagte der Steuermann, ihm sei so seltsam kalt. Dann fing der dritte Mann mit dem Zähneklappern an. Schließlich begann auch ich zu frösteln. Eine ganze Woche hat es gedauert, bis alles wieder seinen normalen Gang ging. Aber gegen Bojentaschen habe ich eigentlich nichts. Gegen Knochen schon. Ich hatte einmal einen Steuermann, einen komischen Kauz aus Rhode Island. Wenn wir Knochen oder andere seltsame Sachen rausfischten, hockte er sich immer hin und nahm das Zeug genau in Augenschein. ›Wirf das Ding zurück, wo’s herkam‹, rief ich ihm zu. Aber er musterte es noch ein Weilchen, ehe er sagte: ›Da unten im Hell Hole, da liegen viele, viele Geheimnisse begraben, Ellery.‹ Ich entgegnete: ›Zum Teufel mit den Geheimnissen! Tu, was ich gesagt habe, und wirf das Ding über Bord, bitte.‹ Ach, wie ich diese Knochen hasse. Weiß Gott, warum ich nicht auch auf dem Grund liege. Manchmal bin ich nämlich etwas leichtsinnig. Etwa wenn Nebel aufzieht und ich weiterfische. Plötzlich muss ich dann an all die Knochen da unten denken, und sofort mach ich keine Mätzchen mehr, sondern hol das Netz ein und seh zu, dass ich an Land komm.«


Obwohl Ellery tagaus, tagein zum Hafen fährt, meist sogar vor Sonnenaufgang, fährt er selten mehr als drei Tage in der Woche hinaus. Im vergangenen Jahr war er nur an einhundertdreißig Tagen auf Fangfahrt. Trotzdem hat er siebenhundertsechsundzwanzig Fass an den Fulton Market geliefert, jedes mit ungefähr zweihundert Pfund Fisch. Manche Boote gehen um ein Drittel öfter auf Fang und landen dennoch weniger an. Ellery liefert an die John Feeney, Inc., am Stand 13. Bei dieser Firma war Alfred E. Smith Laufjunge. Ellery ist nicht der Typ, der über sein Einkommen spricht. »Das geht niemand was an«, sagt er nur. Aber auf einem Fischanleger weiß jeder alles von allen, und drei von Ellerys engsten Freunden schätzen, dass er im vergangenen Jahr sechstausend Dollar verdient hat, vielleicht waren es auch tausend mehr oder weniger. Sein Steuermann und sein Bestmann verdienten vermutlich jeder zwischen zweitausendfünfhundert und dreitausend. Wie bei allen Kapitänen aus Stonington, die zugleich Bootseigner sind, ist Ellerys Mannschaft am Umsatz beteiligt. Dabei gilt eine Art Vierzig-Prozent-Regel, die besagt, dass am Ende jeder Woche vom Gewinn abzüglich der Betriebskosten (Benzin, Öl, Eis, Fässer), den die Eleanor abwirft, weitere vierzig Prozent abgezogen werden. Diesen sogenannten Bootsanteil bekommt Ellery, der davon die Netze und andere Ausrüstungsgegenstände, die Reparaturen, das Trockendock, Versicherungen, Steuern und Ähnliches bezahlt. Der Rest geht zu gleichen Teilen an Ellery, Muise und Brayman.


Junge Fischer staunen, wie wenig Ausrüstung Ellery braucht. Einmal verlor er über ein Jahr und sieben Monate kein Netz. Anders als die meisten Fischer kauft er keine fertigen Netze, sondern bezieht nur das Netztuch und stellt das Netz selbst her. Das Tuch kauft er bei George Wilcox, der auf seiner Farm in ­Quiambaug Cove, einem Dorf zwischen Stonington und Mystic, eine Netzmacherei betreibt. In dem Gebäude hängt ein Schild mit der Aufschrift: »kredit nur für personen über 75 & in ­begleitung der grosseltern.« »Ich bin mit George verwandt«, sagt Ellery. »Wir sind Vettern oder so was. Meine Großmutter väterlicherseits war eine Wilcox. Die werden alle uralt. George ist schon über achtzig, doch damit gilt er bei den Wilcox’ als gerade mal erwachsen. Er hat zwei Brüder und eine Schwester, die alle älter sind als er. Es gab noch einen weiteren Bruder, aber der ist vor ein paar Monaten gestorben. Jess war sein Name. Er war dreiundneunzig und stand kurz vor seinem vierundneunzigsten Geburtstag, hat aber bis zuletzt leichtere Arbeiten auf der Farm übernommen. Ein paar Tage vor seinem Tod hat er mit einem Vorschlaghammer Felsbrocken zertrümmert, weil er eine Steinmauer bauen wollte. Am linken Daumen hatte er eine Blutblase, die er sich beim Dachdecken geholt hatte, und konnte deswegen die linke Hand nicht benutzen. Also schwang er den Hammer nur mit rechts. Weil die Felsbrocken ziemlich groß waren, dauerte die Arbeit doppelt so lange wie sonst. Das ärgerte ihn, und als ein Regenschauer kam, wollte er nicht aufhören. Er arbeitete weiter und holte sich eine Lungenentzündung. Gestorben ist er nur, weil man ihn ins Krankenhaus gebracht hat. Jess hatte noch nie zuvor in einem fremden Bett geschlafen. Gegen Mitternacht stand er im Dunkeln auf und zog sich an, um sich aus dem Staub zu machen und nach Hause zu gehen. Dabei stürzte er und brach sich die Hüfte. Die Wilcox’ hatten früher in Quiambaug Cove eine große Fischmehlfabrik, die Wilcox Fertilizer Company. Deswegen werden sie alle so alt. Die Fabrik stand gegenüber dem Farmhaus, und der Wind blies den Gestank der Fischabfälle oft direkt ins Haus. Der Gestank war so schlimm, dass die Keime das nicht überlebten, und die Luft war so dick, dass sie einen mit allem Wichtigen versorgte und lang leben ließ. Jeder, der irgendein Zipperlein hatte, hörte davon, und die Leute kamen aus der ganzen Gegend in Scharen und setzten sich vors Haus auf die Stufen, vor allem Asthmatiker und Leute mit Wassersucht. An manchen Tagen saßen so viele da, um von der Luft geheilt zu werden, dass die Wilcox’ kaum noch in ihr Haus rein- und rauskonnten.«


Unter den Kapitänen aus Stonington ist Ellery der mit der meisten Erfahrung und dem höchsten Ansehen und zugleich der bescheidenste. Er kennt das Verhalten der Plattfische so genau, dass er seine Fangmengen mühelos verdoppeln könnte, aber er sieht keinen Sinn darin. Dafür gibt es vier Gründe. Erstens hat er Rheuma. Zweitens hat er sich das Ölmalen beigebracht. Nun malt er lieber, wenn es zu stürmisch oder zu neblig ist, um draußen zu fischen; aber selbst bei bestem Fangwetter arbeitet er tagelang an einem Bild, wenn er meint, es könne etwas werden. Drittens ist er Laienmeeresforscher und eine Art ehrenamtlicher Mitarbeiter des Bingham Oceanographic Laboratory, der ozeanographischen Versuchsanstalt der Yale University, und auch das nimmt viel von seiner Zeit in Anspruch. Viertens macht er sich nichts aus Geld. Sein Verdienst reicht zum Leben, und das ist genug, findet er. Er besitze ein Boot, ein Auto, ein Haus mit Garten, fünfundsiebzig Bücher, eine Trompete, ein Rasiermesser und einen Sonntagsanzug, und sonst fiele ihm nichts ein, was er bräuchte. 


Wie Ellery mit dem Hummer verfährt, der ihm ins Netz geht, ist ein gutes Beispiel für seine Einstellung zum Geld. Hummer gibt es in allen Fanggründen, die von Stonington aus befischt werden. Am fettesten sind die, die in großer Zahl in, unter oder neben den im Hell Hole liegenden Schiffswracks leben. Im Sommer und Herbst werden mit jedem Fischzug welche gefangen. Manchmal ist in einem großen Hol auch ein ganzer Schwung von ihnen enthalten. Die Hummer erzielen hohe Preise, und meistens landen sie in New Yorker Fischrestaurants, wo sie zu bestem Maine-Hummer werden; in solchen Restaurants kommen alle Hummer aus Maine, selbst die aus Sheepshead Bay. Alle Kapitäne außer Ellery verkaufen die jungen, kampfeslustigen, bronzefarbenen bis bräunlich grünen Tiere an Restaurants und behalten das Kroppzeug und die Jumbos für sich. (Als Kroppzeug gelten Hummer, die sich erst vor kurzem gehäutet haben und deren Schalen noch nicht ausgehärtet sind, außerdem solche, denen im Kampf oder bei der Paarung eine oder beide Scheren abgezwickt wurden. Die Jumbos sind schwerfällige Riesen mit von Seepocken übersäten Panzern und wenig Fleisch – die Alttiere, die sich nur in Netzen fangen lassen, da sie für die Öffnungen der Hummerkörbe zu groß sind. Der Rekord bei den Fischern aus Stonington hält ein männlicher Hummer mit zweiundzwanzig Pfund, der aber nur noch für Salat und Newburgs taugte.) Ellery macht genau das Gegenteil. Die besten eines Hols sucht er für sich und die Mannschaft aus, den Rest gibt er weg. »Sollen doch die Reichen das Kroppzeug essen«, sagt er. Üblicherweise ist der Bestmann einer drei Mann starken Fischerbootsbesatzung auch für die Kombüse zuständig, aber auf der Eleanor kocht in der Regel Ellery. Er vertritt die Meinung, dass man eine Sache selbst erledigen muss, wenn sie richtig gemacht werden soll. Er ist ein ausgezeichneter Hummerkoch. Er kocht ihn, brät ihn oder macht Suppe daraus, aber meistens kocht er ihn. Dazu stellt er einen Topf mit frischem Meerwasser auf den Kohleofen in der Kajüte und bringt es zum Kochen. Dann wickelt er seine Hummer in Seetang und wirft sie – sechs Stück auf einmal – hinein und stellt auf einem rostigen Wecker, der an einem Haken auf der Unterseite eines Regals über dem Herd hängt, die Kochzeit ein. Nach genau fünfzehn Minuten holt er die Hummer heraus. Anschließend lässt er sie langsam auskühlen, damit das Fleisch nicht zusammenschnurrt und geschmacklos und gummiartig wird, so wie bei kaltem Hummer in Restaurants üblich, und stapelt sie auf dem zerstoßenen Eis des Eisbunkers im vorderen Frachtraum. Er und seine Mannschaft – Frank, der Steuermann, und Charlie, der Bestmann – gehen hin und nehmen sich davon, wann immer sie Lust haben. Sie essen stehend an Deck, wobei sie den gekochten Hummer gegen die Reling schlagen, um den Panzer zu knacken, und dann das Fleisch aus dem Schwanz und den Scheren pulen. Den Rest werfen sie über Bord. Einmal waren sie an einem Herbsttag draußen im Hell Hole und verspeisten zwischen den Mahlzeiten zu dritt vierzehn Hummer.


Ellery hat im Winter 1930 zu malen begonnen. Damals schlief er noch an Bord der Eleanor in Stonington und fuhr nur sonntags nach Hause nach New London, um seine Mutter zu besuchen. Mrs. Thompson hatte als Schülerin einen Malkurs besucht und einige hübsche Blumenstillleben von ihr hängen noch immer in ihrem Wohnzimmer. Weil sie sich in jenem Winter darüber beklagte, dass sie so viel allein sei, hatte Ellery versucht, ihre alte Leidenschaft wiederzubeleben. Im Brater’s, einem kleinen Laden für Künstlerbedarf in New London, kaufte er einige aufgespannte Leinwände und einen Satz Farben und Pinsel. »Ma hat es probiert, aber irgendwie war das nichts mehr für sie«, sagt Ellery. »Ihre Hände waren zu steif. Nun hatte ich all diese ­Malsachen rumliegen, und an einem Sonntagnachmittag kam mir die Idee, selbst ein Bild zu malen. Ma hat mir ein bisschen was erklärt und gesagt, ich soll mit einer Rose anfangen, aber ich hab es mit der Titanic versucht, wie sie den Eisberg rammt. Vier Sonntage lang hab ich daran gemalt. Schwierig fand ich weder die Titanic noch den Eisberg, aber die armen Seelen, die im Wasser schwammen, die trieben mich in den Wahnsinn.« Er nannte das Bild »Näher, mein Gott, zu Dir«. Seiner Mutter gefiel es, und sie ließ es rahmen, hängte es im Wohnzimmer neben zwei ihrer Bilder und lud die Nachbarn ein. »Ehrlich gesagt«, meint Ellery, »da war ich schon stolz.« Er nahm das Malzeug mit nach Stonington und fing an, auf dem Fischereianleger stundenlang Gegenstände anzustarren, um sich ihr Aussehen einzuprägen und sie dann zu malen – einen zerbeulten Blecheimer, einen Muschelrechen, eine Jakobsmuschel-Dredsche, an der noch einige Stückchen Schale hingen, einen Spill, einen Anker. Eine Hummerboje ist ein Stück Holz von etwa einem halben Meter Länge, das mit einem geteerten Tau an einem Hummerkorb befestigt ist und über ihm schwimmt, um seine Position zu markieren. Die Bojen haben verschiedene, oft liebevoll und sehr hübsch geschnitzte Formen und sind meist mit drei bunten Streifen bemalt; jeder Hummerfischer hat eine andere Farbkombination, und so wie ein Jockey die Farben seines Rennstalls trägt, zeigen die Streifen den Besitzer an. Ein paar ausrangierte und von Seepocken besetzte Bojen, die auf dem Anleger umständlich aufeinander getürmt lagen, stachen Ellery ins Auge, und er hat sie gemalt. Er hat auch drei Tierbilder gemalt – zwei von den Katzen, die sich beim Fischhaus herumtreiben, wie sie sich neben einem umgekippten Köderfass hasserfüllt anstarren, einen dösenden Kormoran auf einem Anlegepfahl und eine Horde Ratten, die im Mondlicht in einer Reihe über eine Mole flitzen. Die Ratten auf der Mole in Stonington sind berühmt-­berüchtigt, und außer diesem Gemälde hat Ellery mehrere Bleistiftzeichnungen von ihnen angefertigt. Es sind Hafenratten, die auf die äußere Mole des Hafens von Stonington hinausgewandert sind, wo sie zwischen den aufgeschütteten Steinen hausen; sie ernähren sich von den toten Fischen, die dort angespült werden, und gedeihen prächtig. Manche Fischer haben immer einen Vorrat an Backsteinen und anderen Wurfgeschossen mit an Bord, und damit drangsalieren sie die Ratten gerne, wenn sie auslaufen und an der Mole vorbei zu den Fanggründen fahren oder von dort zurückkehren. Seit einiger Zeit ist die Eleanor Ellerys bevorzugtes Motiv. Er hat sie schon in stürmischer See mit zu Wasser gelassenem Netz gemalt, mit einer Ladung Plattfisch an Deck und einem darüber kreisenden Möwenschwarm sowie mit im Wind trocknenden Netz am Anleger vor einem roten Sonnenuntergang. Dabei hat er akribisch genau gearbeitet und möglichst viele Details ins Bild aufgenommen. Eines der Fenster des Steuerhauses hat einen Sprung; in jedes seiner Bilder baut er diesen Sprung ein, immer mit demselben Zackenmuster. »Ich stelle gerne alles dar«, sagt er. »Wenn es nach mir ginge, dann würde ich auch die Köpfe der Nägel in den Planken und die Knoten im Tauwerk und die einzelnen Maschen der Flagge abbilden, aber Ma glaubt, dass so ein Bild kitschig aussehen würde.« In ungefähr einem Jahr hat er die Eleanor sechzehnmal gemalt. 


An einem Sonntagmorgen im August 1931 packte Ellery seine neuesten Bilder ins Auto, um sie nach Hause zu bringen und seiner Mutter zu zeigen. Er hielt an einer Tankstelle auf der U.S. Route 1 in der Nähe von Groton, um zu tanken, und der Besitzer, ein alter Bekannter, entdeckte sie auf dem Rücksitz, betrachtete sie eine Weile und fragte dann, ob er eins davon in sein Fenster stellen dürfe. »›Aber ja, selbstverständlich‹, hab ich gesagt«, erinnert sich Ellery. »Er suchte sich eins aus, das größte, und meinte, es müsse ein Preisschild dran sein, das sähe professioneller aus. Wir scherzten noch ein wenig, und schließlich klebte er ein Schild über hundert Dollar dran. Er lachte und ich lachte. Nicht mal eineinhalb Stunden später rief er an und sagte, dass Leute bei ihm seien, die es kaufen wollten, ein Mann aus New York, der sich in Groton Long Point ein Ferienhaus baute. Er wollte sich so ein Meereszimmer einrichten, und dafür suchte er ein paar Bilder mit Schiffen. Er ließ sich meine Adresse geben und fuhr zu mir nach Hause. Zu meiner Überraschung sah er überhaupt nicht seltsam aus, und er fragte, ob ich noch andere verkaufen würde. ›Aber ja, selbstverständlich‹, sagte ich und holte welche. Er nahm fünf, einschließlich dem, das im Fenster stand – drei große und zwei kleine –, und stellte mir einen Scheck über vierhundert Dollar aus.«


Dieser Glücksfall wirkte sich für Ellery negativ aus. Als er das nächste Gemälde anfing, schien ihm nichts zu gelingen. Das Bild war kaum halb fertig, da begann er schon ein neues. »Jetzt weiß ich, was nicht gestimmt hat«, sagt er. »Statt ein Bild nur zum Vergnügen zu malen und es Ma und den Männern im Hafen zu zeigen, wollte ich eins malen, das hundert Dollar wert war.« Nach mehreren missglückten Anläufen verlor er das Selbstvertrauen. Er rollte sein Malzeug in eine Decke ein, verstaute es in der freien Koje der Eleanor und malte drei Jahre lang gar nicht mehr. Im Sommer 1934 kaufte ein Kapitän aus Stonington einen neuen Dragger und bat Ellery, ihm ein Bild davon zu malen. »Was krieg ich dafür?«, fragte Ellery. Der Kapitän bot ihm eine Kiste Zigarren. »Sagen wir, eine Flasche Scotch und das Geld für die Leinwand«, entgegnete Ellery, »und ich sehe zu, was ich tun kann.« Der andere schlug ein, und Ellery besorgte sich eine aufgespannte Leinwand, lehnte sie gegen einen Hummerkorb auf dem Anleger, setzte sich auf einen anderen Korb und machte sich an die Arbeit. »Am Anfang ging es mir überhaupt nicht von der Hand«, erzählt er, »aber nach einer Weile kam ich wieder rein. Jeder am Anleger ließ die Arbeit liegen und stehen und kam vorbei, stellte sich hinter mich und erklärte mir, was ich zu tun hätte, aber ich habe das Bild bis zum Nachmittag fertig gemalt, und es ist gut geworden. Der Pott war eben erst vom Stapel gelaufen und die Maschine nicht eingefahren, aber ich hab ihn auf hoher See gemalt, wie er einem Sturm trotzt. Das hat dem Kapitän gefallen. Als ich fertig war, haben mich gleich zwei andere Kapitäne beauftragt, ihre Boote zu malen.«


Seitdem hat Ellery zwischen fünfzig und sechzig Dragger, Trawler, Makrelen-Wadenfänger und Hummerboote gemalt, und sein Preis hat sich von einer Flasche Scotch auf fünfunddreißig Dollar erhöht, wenn der Kunde aus Stonington ist; von Fremden verlangt er fünfundsiebzig Dollar. »Ich bin stolz auf meine Bilder«, sagt Ellery. »Aber gleichzeitig bereue ich, dass ich damit angefangen habe. Es ist schwer, einen Dragger-Kapitän zufriedenzustellen, und es wird jedes Mal schwerer. Nicht nur, dass man das Boot so exakt malen muss wie eine Blaupause, man muss es außerdem in schwerer See zeigen, mitten in einem schrecklichen Sturm. Darauf bestehen alle. Wie der Kapitän, der neulich sagte: ›Das ist ein gutes Bild, Ellery, aber ich fände es besser, wenn noch ein Blitz in den Mast einschlägt.‹ Jeder möchte einen schlimmeren Sturm als die anderen. Es ist schon so weit, dass ein Kapitän beleidigt wäre, wenn ich ein Boot malen würde, das auch nur annähernd den Hafen erreichen könnte.« Abgesehen von der eigenen interessiert sich Ellery kaum für Malerei. Als die Eleanor einmal wegen eines Motorschadens in Newport liegen blieb, verbrachten er, Frank und Charlie den Nachmittag in ­Providence und besuchten das Museum der Rhode Island School of Design. Sie hatten ihre Arbeitskleidung an und fühlten sich nicht wohl, so dass sie nach kurzer Zeit wieder gingen. »Wir konnten gar nicht schnell genug wieder draußen sein«, sagt Ellery. Manchmal kommt es ihm vor, als sei sein Erfolg als Maler ein Schnippchen, das er der Welt schlägt. »Fast jeder Fischerkapitän zwischen Point Jude und New London hat eins meiner Bilder bei sich zu Hause hängen«, sagt Ellery, »und manchmal, wenn ich an ihren Häusern vorbeifahre, denke ich mir: ›Mein Gott, was hab ich da nur angerichtet?‹« Andere Gemälde von Ellery hängen bei Netzmachern, Schiffsausrüstern, in Hafenämtern und Hafenkneipen in Ost­connecticut. Die meisten davon sind Bilder der Eleanor. Der Besitzer des Fischereianlegers, Bindloss, hat sogar sechs. Auch auf dem Fulton Market gibt es einen Thompson. Er gehört Jim Coyne, dem Geschäftsführer von John Feeney, Inc., der Firma, der Ellery seinen Fisch liefert, und es hängt am Feeney-Stand in der alten Hütte des Fischhändlerverbandes. Jeden Sommer kaufen New Yorker, die ihren Sommerurlaub in Stonington und Umgebung verbringen, ein paar von Ellerys Werken. Dabei erklären sie ihm gerne, er sei ein naiver Maler. Früher hat ihn das geärgert, doch jetzt weiß er um die Bedeutung dieses Begriffs, auch wenn er nach wie vor so tut, als wüsste er es nicht. Im vergangenen Sommer hat eine New Yorkerin zu ihm gesagt, sie kenne zig Maler, aber er sei der erste naive, dem sie begegnet sei. Darauf erwiderte Ellery: »Heute bin ich nicht mehr so naiv wie früher, nicht mal annähernd. Ehe ich Rheuma bekam, war ich bestimmt der naivste Maler in Ostconnecticut.«


In den letzten Jahren hat sich Ellery immer weniger mit der Malerei befasst und stattdessen ein zunehmendes Interesse für Ozeanographie entwickelt. Er sagt, zum ersten Mal habe er an einem Samstagnachmittag im Mai 1943 davon gehört. Er und ein paar andere Dragger-Kapitäne hatten das Wochenende eingeläutet und saßen an der Kaimauer und ließen eine Flasche kreisen, als zwei Fremde zu ihnen traten und sich vorstellten: Es waren Daniel Merriman, der Leiter des Bingham Oceanographic Laboratory von der Yale University, und der Forschungsassistent Herbert E. Warfel. Mr. Merriman eröffnete den Kapitänen, dass die Versuchsanstalt eine groß angelegte Untersuchung des Fischbestands in den östlichen Fischgründen von Connecticut und den westlichen von Rhode Island in Angriff nähme, und bat sie um ihre Mithilfe. Er sagte, dass er und Mr. Warfel die Untersuchung leiten würden und dass sie ein- oder zweimal im Monat von New Haven hierherkommen wollten und mit Draggern aus Stonington in die Fischgründe fahren und den eingeholten Fisch untersuchen und meereskundliche Beobachtungen anstellen. Als Ellery das hörte, stand er augenblicklich auf, ging zum Anleger und zur Eleanor und blieb so lange in der Kajüte, bis die Forscher wieder gegangen waren. In den Hafen von Stonington kommen alle möglichen Wissenschaftler – Wasserbiologen vom United States Fish and Wildlife Service, Fischkundler von Universitäten in New England und in den letzten Jahren auch Chemiker von Arzneimittelfirmen, die den Vitamingehalt der Lebern verschiedener Fischarten bestimmen wollen –, und Ellery hat keine gute Meinung von ihnen. Aus Gefälligkeit hat er drei Mal Wissenschaftler mit hinaus zum Hell Hole genommen. »Sie waren alle gleich«, meint er. »In der ersten Stunde, als wir das Netz schleppten, standen sie uns im Weg rum. Man konnte sich kaum umdrehen, ohne einem Dr. Sowieso auf den Fuß zu treten. In der zweiten Stunde, als wir den Hol sortierten, saßen sie bloß rum, sahen uns bei der Arbeit zu und stritten sich, was der richtige lateinische Name dieses und jenes Fisches war; wir standen knietief in Fisch und waren nass bis auf die Haut, und da ging uns dieses Lateingequatsche mit der Zeit ziemlich auf die Nerven. In der dritten Stunde aßen sie belegte Brote. Und in der vierten kotzten sie.«


Andere Kapitäne waren aufgeschlossener. Noch im selben Monat fuhren Mr. Merriman und Mr. Warfel mit Kapitän S. W. Stenhouse auf der Nathaniel B. Palmer und mit Kapitän W. H. McLaughlin auf der Marise hinaus. In der ersten Juniwoche nahm sie Kapitän Roscoe Bacchiocchi auf der Baby II mit. Mr. Merriman fiel auf, dass die Kapitäne auf eine ganze Reihe seiner und Mr. Warfels Fragen antworteten, sie selbst wüssten es nicht, aber wahrscheinlich Kapitän Thompson von der Eleanor. Auf die Frage, ob die Gefleckte Flunder bis in den Block Island Sound kommt, gab beispielsweise Kapitän Bacchiocchi zur Antwort, dass er die gar nicht erkennen würde, wenn er eine finge, jedoch meinte er sich zu erinnern, dass Ellery mal erwähnt habe, dass ihm welche ins Netz gegangen seien. Zweimal ging Mr. Merriman an Bord der Eleanor, als er sie am Anleger vertäut fand, und fragte nach Kapitän Thompson, doch jedes Mal rief ein Mann, den er später als Kapitän Thompson selbst identifizierte, aus der Kajüte den Niedergang herauf, der Kapitän habe gerade Feierabend gemacht und sei ins Kino gegangen. An einem Sonntagabend Ende Juni rief Mr. Merriman Ellery schließlich zu Hause an. Das Gespräch verlief etwas eigenartig und Mr. Merriman erinnert sich noch gut daran. Er sagte Ellery, er würde sehr gerne mit ihm auf Fangfahrt gehen, und wollte gerade zu einer Erklärung anheben, als ihn Ellery unterbrach und fragte: »Wie nennen Sie sich, Doktor oder Mister?« Mr. Merriman antwortete, er sei Doktor, würde aber lieber mit Mister angeredet werden. Da sagte Ellery, er wolle es sich überlegen. Im nächsten Augenblick hatte er sich schon entschieden und sagte: »Ach zum Teufel, kommen Sie morgen früh um halb sechs zum Anleger, dann nehmen wir Sie mit und bringen die Sache hinter uns.« Mr. Merriman wollte sich bedanken, aber wieder unterbrach ihn Ellery und sagte: »Bedanken Sie sich nicht, stehen Sie uns nur nicht im Weg rum. Und wenn Sie sehen, dass wir alle Hände voll zu tun haben und das Netz einholen und überall Katzenhaie rumzappeln und die Möwen kreischen und die Winsch Fehlzündungen hat und am ganzen Deck Tohuwabohu herrscht, dann suchen Sie und dieser andere Professor sich besser einen anderen Moment aus, um uns abzulenken und Fragen zu stellen. Und bringen Sie keine belegten Brote mit. Wenn ich etwas hasse, dann sind es belegte Brote. Wenn Sie auf meinem Boot sind, bekommen Sie auch von mir was zu essen.«


Da Mr. Merriman schon vielen Fischerkapitänen begegnet ist und dadurch zu dem Schluss kam, dass niemand so unverblümt spricht wie sie, verwunderten ihn Ellerys deutliche Worte nicht weiter. Mr. Merriman ist ein freundlicher, umgänglicher, ernsthafter junger Wissenschaftler, der ungefähr so viel Zeit mit Feldforschung verbracht hat wie mit Büchern. Nach drei Jahren in Harvard stellte er 1930 fest, dass er Fische interessanter fand als Geisteswissenschaften und brach das Studium ab. Danach trieb er sich zwei Jahre in amerikanischen und englischen Fischereihäfen herum und fuhr von Groton aus auf Trawlern zu den Fischgründen im Golf von Maine sowie auf Trawlern und Treibnetzfischern von den englischen Hafenstädten Grimsby und Lowestoft zum Heringsfang in die Fanggebiete der Nordsee. Danach kehrte er an die Universität zurück – aber nicht nach Harvard, sondern an das Institut für Fischereiwesen an der University of Washington in Seattle. Nachdem er dort mit einer Arbeit über die Bedeutung der Wassertemperatur für die Entwicklung der Eier und Larven der Cutthroat-Forelle den Grad des Master erworben hatte, ging er 1935 an die Yale University, um in Zoologie zu promovieren. 1938 wurde er Lehrbeauftragter für Biologie, 1942, im Alter von vierunddreißig Jahren, Assistant Professor für Biologie, Kurator für Ozeanographie am Peabody Museum und Direktor des Bingham Oceanographic Laboratory. Sein Buch über den Felsenbarsch ist das maßgebliche Werk über diesen Fisch. Er ist ­Bostoner und entstammt einer alten Gelehrtenfamilie. Sein Vater, der verstorbene Professor Roger Bigelow Merriman, lehrte dreiundvierzig Jahre lang Geschichte in Harvard. Der ehemalige Präsident von Harvard, Charles W. Eliot, war sein Onkel.


Mr. Warfel entstammt einer Familie von Pennsylvania-­Deutschen aus Indiana. Mit Fisch beschäftigt hat er sich teils als Lehrer, teils als Biologe in Diensten der Fischerei- und Jagdaufsichtsbehörden der Bundesstaaten Colorado, North Dakota, Oklahoma, Massachusetts, New Hampshire und Connecticut. Er ist der Ansicht, dass zu einem gründlichen Studium der Fische auch das Kochen und Verzehren derselben gehört. Er hat selbst einen Tintenfischeintopf kreiert. Hin und wieder bleiben er und ein paar Kollegen abends länger in der Versuchsanstalt und machen sich eine ordentliche Portion Kaviar aus dem Rogen des Seeskorpions – einem minderwertigen Fisch, der für gewöhnlich nur als Hummerköder genutzt wird.


Mr. Merriman und Mr. Warfel fuhren am letzten Junimontag 1943 mit Ellery hinaus zum Hell Hole. »Frank und ich waren wie immer um halb sechs beim Boot«, sagt Ellery. »Da waren die Professoren schon auf der Eleanor und hatten es sich auf der Luke bequem gemacht, nur Charlie war noch nicht da. Die Professoren sahen übernächtigt aus, und sie waren unrasiert und hatten alte Sachen an, also wirklich olle Klamotten. Frank und ich gingen nach unten, um den Motor anzulassen, und Frank bemerkte, so wenig wie die zwei hätte noch kein Mensch, dem er begegnet sei, nach einem Professor ausgesehen. Es war ein warmer, regnerischer Morgen und Frank war genauso schlecht gelaunt wie ich. Wir waren startklar, aber immer noch keine Spur von Charlie. Schließlich kam der Junge der Frau, in deren Pension in der Water Street Charlie damals ein Zimmer hatte, den Kai entlang geschlurft und sagte, Charlie habe ihn geschickt, er könne nicht aufstehen, sein linkes Knie tue ihm weh. Charlie hat irgendwas Chronisches am linken Knie, und ab und zu kann er deswegen nicht arbeiten gehen, sondern muss es pflegen. Das ist ein seltsames Gebrechen. Eigentlich macht es ihm kaum Ärger, außer an Samstagen. Ab Samstagmittag beginnt er plötzlich zu humpeln und schaut ganz elend drein und jammert, sein Knie ist dick, und Samstagabend fängt er an, etwas gegen die Schwellung zu nehmen. Dann dauert’s manchmal bis Dienstag oder Mittwoch, ehe die Schwellung so weit zurückgeht, dass er wieder richtig arbeiten kann. Er hat schon alle möglichen Mittel, Salben und Tinkturen probiert, aber das Einzige, was ihm wirklich zu helfen scheint, ist Rye-Whisky. Er wendet ihn innerlich an. Einmal habe ich ihn gefragt, ›Charlie, warum in aller Welt‹, hab ich gesagt, ›warum versuchst du’s nicht mal mit Einreiben?‹. Er meinte aber, dass es besser hilft, wenn er ihn innerlich anwendet.


Eigentlich wollte ich ohne Charlie nicht raus zum Schleppen. Die Eleanor lässt sich zwar auch mit zwei Mann Besatzung fahren, aber ich mag das nicht. Ich will auch noch fischen, wenn ich alt bin, ohne dass ich ein Bruchband trage. Da meldeten sich die Professoren zu Wort und sagten, sie würden gerne einspringen und helfen. ›Eine schöne Hilfe werdet ihr sein‹, dachte ich. Aber ich wollte mein Versprechen halten, und so sagte ich zu Frank, dass wir losmachen. Ich steuerte, bis wir am Watch-Hill-Leuchtturm vorbei waren; dann übergab ich das Ruder an Frank und ging unter Deck und machte Frühstück. Ich brühte Kaffee auf, schlug ein paar Eier in die Pfanne und kochte vier schöne Hummerweibchen. Offenbar aßen die Professoren zum ersten Mal Hummer zum Frühstück, aber ich hörte keine Klagen. Wir kamen zum Hell Hole, und schon als wir das Netz setzen wollten, begann der Ärger. Frank schob den Steert des Netzes heckseitig über Bord, so wie er es immer tut, doch eine Welle erfasste das Ding, noch ehe es unter Wasser war, und schleuderte es herum. Dadurch wurden die Scherbretter seitlich an Deck geworfen und es hat das Hahnepot vor einem Brett völlig verdreht. Um es kurz zu machen, es lief richtig schief. Und ich stand am Steuer und konnte nichts tun. Frank rannte zum Heck und wollte die Sache in Ordnung bringen, aber noch ehe er dort war, sprang Mr. Merriman auf das Scherbrett und schnappte sich das Hahnepot. Ich dachte, ›Der Kerl hat wohl vergessen, ›Hier!‹ zu rufen, als Gott das Hirn verteilt hat‹, und wollte schon losbrüllen, er solle da verschwinden. Ich war felsenfest überzeugt, dass er gleich ganz gehörig gewaschen würde, aber er richtete das Hahnepot wieder so aus, wie es gehört – weder ich noch Frank oder ein anderer Fischer hätte das besser gekonnt. Und dann sprang er eine Sekunde, ehe das Scherbrett wie eine Pistolenkugel ins Wasser schoss, wieder runter. Ich rief ihn zum Steuerhaus und wollte wissen, wieso zum Teufel er sich mit Scherbrettnetzen auskannte. ›Hat man Ihnen das etwa in Yale beigebracht?‹, fragte ich. Und er antwortete, dass er als junger Mann ein paar Mal auf Fischerbooten gearbeitet habe. Als ich das hörte, hatte ich natürlich einen gewissen Respekt vor ihm.


Als wir das Netz gehievt und den Hol an Deck hatten, halfen uns die Professoren beim Sortieren. Sie setzten sich hin und packten richtig mit an. Es war ein riesiger Unterschied zu den anderen Forschern. Sie arbeiteten so gut wie wir, außer dass sie ab und zu kurz aufhörten und sich was aufschrieben. Und sie warfen nicht mit lateinischen Wörtern um sich. Sie nennen einen Gabeldorsch nicht Hippogloppus hoppogloppus, sondern wie wir Schnodderkopf. Nachdem wir den Fisch sortiert und in die Fässer gefüllt hatten, gingen wir auf einen Imbiss nach unten, und sie fingen an, Fragen zu stellen – ob ich schon mal eine Gefleckte Flunder gesehen hab, wann der Blaufisch zum letzten Mal gewandert ist und wie groß die Wanderung im Vergleich zu den früheren war, welche Arten ich für abgefischt halte und Ähnliches. Es müssen mindestens fünfzig Fragen gewesen sein.


Nach zwei Fischzügen von je einer Stunde setzten Nebel und Nieselregen ein, so dass wir uns auf den Rückweg machten. Am Fischereianleger löschten wir den Fang, und da erst Mittag war, fragte ich die Professoren, ob sie zum Essen bleiben wollten, ich würde Flundern braten. Beim Essen erklärte ich ihnen, dass ich nun gerne den Spieß umdrehen und ihnen eine Frage stellen würde. Es gebe da eine Sache, die ich seit meiner Kindheit wissen wolle und die ich schon hundertmal hin und her überlegt hätte, ohne eine Antwort zu finden – und zwar: ›Wie paaren sich Hummer? Wie in aller Welt machen die das?‹ Ich fragte, ob sie das wüssten. Nun, sie wussten es. Sie hatten die wissenschaftliche Erklärung parat und zogen ihre Notizbücher heraus und zeichneten es mit ein paar Skizzen genau auf. Frank war oben an Deck, um die Netze zum Trocknen aufzuhängen, und ich rief, er solle runterkommen, das dürfe er nicht verpassen. Das führte dann zur Paarung von Walen. Als Nächstes fragte ich, was sie persönlich von dieser komischen Sache mit dem Seegras hielten. Das wuchs früher am Grund von Buchten an der gesamten nordamerikanischen Küste in riesigen Wiesen. Mit langen, schwertförmigen Blättern, die fast wie Aale aussehen. Für die Fischer war es sehr gut, weil es die Jakobsmuscheln schützte, die darin lebten. Irgendwann 1931 ist es vollständig verschwunden. In einer Woche stand es noch ganz dicht, und in der nächsten sah man kein einziges grünes Blatt mehr. Auch die Jakobsmuscheln sind fast ganz aus den Buchten verschwunden. Deswegen sind sie inzwischen so teuer. Die alten Fischer, die am Anleger herumsitzen, erfanden dazu natürlich die tollsten Theorien, so sind sie nun mal. Einer der Alten, ein Baptist, war überzeugt, dass Gott die Fischer für ihren liederlichen Lebenswandel strafte. ›Das Seegras ist nur der Anfang‹, sagte er immer. ›Als Nächstes kommen die Fische.‹ Die Professoren wussten, was wirklich passiert war. Ein Pilz hatte sich in dem Gras eingenistet – so ein kleiner Mistkerl, den man mit bloßem Auge gar nicht sieht – und mit einer höllischen Geschwindigkeit ausgebreitet. Sie malten auf, wie er unter dem Mikroskop aussieht, und erklärten, wie er das Gras zerstört. Und dann kamen wir auf das Thema der Sargassosee, wo die Aale laichen, die Amerikanischen Aale an der einen Stelle und die Europäischen Aale an einer anderen. Danach sprachen wir über die Gezeiten und den Mond und den Golfstrom und den Schelf und den Kontinentalhang und die Tiefsee. Den ganzen Nachmittag redeten wir und tranken Kaffee. Ich beantwortete ihre Fragen und sie meine. Von mir kam das praktische Futter und von ihnen das theoretische. Das ging immer hin und her und das gefiel mir. Als sie aufbrachen, fragten sie, ob sie wieder einmal mit der Eleanor rausfahren dürften. Ich antwortete: ›Zum Teufel, ja!‹ Da erkundigten sie sich, ob sie bei der nächsten Ausfahrt ein paar wissenschaftliche Geräte mitbringen dürften, worauf ich sagte, dass ich nicht wüsste, was dagegen spräche, das könnten sie herzlich gerne. Ich sagte, sie könnten die Eleanor auch zu ihrem Hauptquartier machen.«


Seit jenem Tag sind Mr. Merriman und Mr. Warfel wenigstens einmal im Monat auf der Eleanor; sie ist gewissermaßen ihr Forschungsschiff geworden. Ellery besitzt einen alten Yale-Wimpel, ein Souvenir der Harvard-Yale-Ruderregatta in New London, den er hisst, wenn die beiden an Bord sind. Die Ozeanographen haben mehrere Nachschlagewerke in das Steuerhaus der Eleanor gestellt. Außerdem ist ein Regalbrett im Lebensmittelschrank in der Kajüte mit Büchern, meist über Fische, belegt. Sie gehören Ellery, der sich eine eigene wissenschaftliche Bibliothek aufbaut. Sein erster Band war ein altes Nachschlagewerk des United States Bureau of Fisheries, Fishes of the Gulf of Maine von Henry B. Bigelow und William W. Welsh, ein Standardwerk der amerikanischen Fischkunde. Mr. Merriman und Mr. Warfel entdeckten ein Exemplar in einem Antiquariat in Boston und schenkten es Ellery 1944 zu Weihnachten. Ellery schätzt es sehr. Er hat es mehrmals gelesen, und er leiht es anderen Kapitänen und zitiert häufig daraus. Mr. Warfel glaubt, dass Ellery seine Abneigung gegen Latein abgelegt hat, und er ist sich fast sicher, dass er die lateinischen Fischnamen im Bigelow & Welsh auswendig gelernt hat. Ellery leugnet dies rundweg. Allerdings rutschen ihm ab und zu welche heraus. Zu bestimmten Jahreszeiten sind in den Gewässern vor Stonington zwei Haiarten sehr häufig, der Dornhai (Squalus acanthias) und der Dunkle Glatthai (Mustelus canis). Vor nicht allzu langer Zeit erwähnte Ellery in einem Gespräch mit Mr. Warfel einen großen Hai, der an die Wasseroberfläche gestiegen war und beim Einholen des Netzes ein Loch hineingerissen hatte, um an die gefangenen Fische zu gelangen. Als Mr. Warfel wissen wollte, welche Spezies es gewesen sei – ein Dornhai oder ein Glatthai –, meinte Ellery: »Es war ein acanthias.«


Ellery und die Ozeanographen haben sich angefreundet. Er nennt sie Dan und Herb. In der Zeit zwischen ihren Exkursionen nach Stonington schickt er ihnen ausführliche Aufzeichnungen über die Situation in den Fischgründen. Er hat auch viele Fischproben für sie gesammelt. Jedes Mal, wenn ein Fischer aus Stonington in einem Hol einen besonderen Fisch entdeckt, etwa einen, den es mit dem Golfstrom aus tropischen Gewässern nach Norden verschlagen hat, dann hebt er ihn auf und bringt ihn Ellery. Der notiert Datum und Ort des Fangs sowie weitere relevante Informationen, die ihm der Fischer gibt, auf ein Stück festes Papier, steckte es in das Maul des Fischs und legt ihn in einen Zwanzig-Liter-Behälter mit Formaldehyd, den die Ozeano­graphen zu diesem Zweck in der Hütte am Bindloss-Anleger aufgestellt haben. Die Forscher haben bereits fünf oder sechs Arbeiten zu einzelnen Themen ihrer großen Studie veröffentlicht. In jeder haben sie sich für Ellerys Unterstützung bedankt. Zum Beispiel schrieben sie in einer Anmerkung zu »Laichverhalten, Eier und Larven des Amerikanischen Seeraben Hemitripterus americanus im südlichen Neuengland«: »Die Autoren danken Kapitän Ellery Thompson von der Eleanor mit Heimathafen Stonington, Connecticut, ohne dessen Hilfe ein Großteil der Arbeit in dieser Versuchsanstalt nicht möglich gewesen wäre.« Die Versuchsanstalt hat zwei von Ellerys Gemälden der Eleanor erworben. Mr. Merriman und Mr. Warfel nehmen gelegentlich auch Kollegen mit auf Fangfahrt. Sowohl Dr. Ernest Freeman ­Thompson, eine internationale Kapazität auf dem Gebiet des Einsiedlerkrebses, als auch der Chemieprofessor Dr. Werner Bergmann, der sich zum Vergnügen mit der Taxonomie der marinen Wirbellosen befasst, sind drei Mal mitgefahren. Einmal kam sogar der Vater von Mr. Merriman aus Harvard und fuhr mit Ellery zum Mussel Bed. Dabei stand er die ganze Zeit neben dem Steuerrad und erzählte Ellery Anekdoten über Süleyman den Prächtigen, über den er eine Biographie verfasst hatte. Als Professor Merriman im September 1945 starb, schickte Ellery einen Kranz. »Er hatte das Herz am rechten Fleck«, sagt Ellery. Nach jeder ihrer allmonatlichen Ausfahrten lädt Ellery die Ozeanographen zum Abendessen zu sich nach Hause in New London ein. Anfangs gab es nur kalte Platte und Bier, doch seine Mutter fand das ungastlich. Mrs. Thompson ist eine Köchin vom alten Schlag und kocht immer üppig und reichlich, und für ihre Obstkuchen oder Baisertorten, die es mit denen eines jeden New Yorker Konditors aufnehmen können, entschuldigt sie sich hinterher auch noch. Mrs. Thompson kocht für ihr Leben gern, und ebenso liebt sie es, anderen beim Essen zuzusehen, so dass sich Ellerys Abendeinladungen zu Galadiners ausgewachsen haben. Erst neulich füllte Mrs. Thompson einen zwanzig Pfund schweren Truthahn mit drei Dutzend Robbins-­Island-Austern und briet ihn im Rohr.


Mr. Merriman und Mr. Warfel benutzen für die Fahrt nach ­Stonington einen alten Lieferwagen, den sich die ozeanographische Versuchsanstalt mit dem Institut für Geologie teilt, und stellen ihn vor dem Bindloss-Anleger ab. Mit sich führen sie zwei Kisten mit wissenschaftlichem Gerät – Thermometer, seidene Planktonnetze, Einmachgläser für kleinere Proben, ein Brett mit Maßskala zur Vermessung der Fische und einen Behälter mit Formaldehyd. An Bord der Eleanor stellen sie diese Kisten auf die Heckluke. Bei einer Fangfahrt nehmen sie Meerwasser­proben von der Oberfläche und aus der Tiefe, notieren die Temperaturen von Luft und von Oberflächen- und Tiefenwasser und zeichnen die Wetterverhältnisse auf. Außerdem sammeln sie Proben von Plankton, jener mikroskopisch kleinen, pflanzlichen und tierischen Organismen, die die Hauptnahrung der meisten Fische sind. Wird das Netz an Bord gehievt und auf Deck geleert, untersuchen sie mehrere Exemplare jeder Fischart im Hol. Dreiundzwanzig Arten treten vor Stonington in größeren Mengen auf. Kommerziell betrachtet, lassen sie sich in drei Gruppen unterteilen – in gut vermarktbaren, zeitweise vermarktbaren und minderwertigen Fisch. Acht Arten sind gut zu vermarkten: Winter­flundern, Gelbschwanzflundern, Sommerflundern, Hundszungen, Dorsch, Schellfisch, Cunner und Meerbrassen. Fünf Arten werden zeitweise vermarktet – Sandbutt, Wittling, Weißer und Roter Gabeldorsch sowie die Amerikanische Aalmutter. Zehn Arten hält man für minderwertig – Baptisten-Flunder, See­skorpion, kleiner und großer Echter Rochen, Scheunentor­rochen, Seeteufel, Seeraben, Knurrhähne, Dornhai und Glatthai. Diese werden immer aussortiert und ins Meer zurückgeworfen, wobei ein großer Teil der Fische verendet. Durch die über sieben Monate erfolgte und von Ellery unterstützte Datensammlung während der Fischfahrten der Eleanor und anderer Fangboote konnten Mr. Merriman und Mr. Warfel feststellen, dass ungefähr dreiundfünfzig Prozent des Fangs der Stonington-Flotte ins Meer zurückgeworfen wird. Sie halten das für eine unglaubliche Verschwendung. All diese Fische sind essbar, aber die Amerikaner wollen sie nicht, vor allem wegen ihres Aussehens. Mit Ausnahme der Baptisten-Flunder, die auf dem Rücken ein hübsches Muster mit vier Kreisen in Kreisen trägt, sehen alle ziemlich grotesk aus. In Geschmack und Konsistenz des Fleisches stehen die meisten den bekannten Speisefischen jedoch in nichts nach, und eine Art, der Scheunentorrochen ist bei entsprechender Zubereitung sogar besser. In England schätzt man Rochen sehr, und raie au beurre noir ist ein berühmtes Fischgericht in der französischen Küche. Andere Fischflotten in Neuengland liefern kleinere Mengen minderwertigen Fisch an den Fulton Market, wo sie zwei unterschiedliche Käufergruppen finden: die Einkäufer von Luxushotels und Edelrestaurants und die Besitzer kleiner Fischläden in italienischen, spanischen oder chinesischen Vierteln.


Auch eine Vielzahl an wirbellosen Tieren landet mit jedem Hol auf dem Deck eines Schleppnetzfischers – Hummer, Tintenfische, Blaukrabben, Taschenkrebse, Einsiedlerkrebse, Trog­muscheln, Blutmuscheln, Große Pilgermuscheln, Fächermuscheln, Herz­muscheln, Miesmuscheln, Mondschnecken, Birnenschnecken, Sanddollars, Seesterne, Schlangensterne, Seeanemonen, Seescheiden, Seemäuse, Seeigel und Meeresschwämme. Außer Hummern und Jakobsmuscheln sowie bisweilen Tintenfischen und Blaukrabben werden alle ebenfalls ins Meer zurückgeworfen oder durch das Speigatt gespült – ein weiteres Beispiel für die sinnlose amerikanische Verschwendungssucht. Der reife rohe Rogen von Seeigeln ist besser als das Gros des Kaviars, den wir bekommen. Birnenschnecken werden von den Muschelfischern neben ihrem Hauptgeschäft angelandet. Sie werden für ein schmackhaftes italienisches Gericht namens scungili verwendet; in der Mulberry Street gibt es einige darauf spezialisierte Kellerlokale, die auch scungili-Lokale genannt werden. Geschmacklich und in der Konsistenz ähneln die scungili Pilzen, und genau wie Pilze haben sie einen moschusartigen, erdigen Geruch. Wer öfter in italienische Restaurants geht, hat wahrscheinlich bereits Mond- oder Birnenschnecken gegessen, ohne es zu wissen, denn beide werden häufig für Spaghettisoßen und in anderen Pasta­gerichten verwendet. Auch die Chinesen in Chinatown verarbeiten für eine Reihe von Gerichten Birnenschnecken.


Bei jeder Fahrt auf der Eleanor suchen sich Mr. Merriman und Mr. Warfel einen Hol aus – meist ist es der zweite – und kaufen alle Fische darin, egal welche, und bezahlen den aktuellen Preis am Fulton Market. Diese Fische werden unsortiert in Fässer verpackt und auf Eis gelegt und im Frachtraum verstaut; es können zwei bis sechs Fass sein. Zurück im Hafen werden sie auf den Lastwagen geladen und in die Versuchsanstalt gebracht. Am nächsten Tag versammeln sich Mr. Merriman, Mr. Warfel und ihre Kollegen an den Seziertischen in einem Raum im Keller des Institutsgebäudes, der »Rattenloch« heißt, und wiegen und vermessen jeden Fisch und bestimmen sein Geschlecht. Von jeder Art werden einige Exemplare in die Kühlkammer gelegt, die dann nach und nach herausgenommen, seziert und auf ihr Alter, ihre Geschlechtsreife, den Mageninhalt und Parasiten untersucht werden. Diese Arbeit dauert mehrere Tage. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse und die bei den Fangfahrten gesammelten Daten geben in der Gesamtschau Auskunft über Laich- und Fressverhalten, Wachstumsraten, Altersverteilung, natürliche und fischereibedingte Mortalitätsraten, Fischkrankheiten, Nahrungskonkurrenz und das Verhältnis zwischen Individuen und das zwischen verschiedenen Spezies. Auf der Grundlage dieser Daten werden die Bestandsschwankungen in den Fischgründen im südlichen Neuengland analysiert. Dies ist der Hauptzweck der Studie. Die Ozeanographen hoffen, dass sie auf diesem Wege irgendwann abschätzen können, welche Mengen von jeder Spezies in einer Fangsaison entnommen werden können, ohne ihren Fortbestand zu gefährden.


Fischer und Fischhändler entlang der Südküste Neuenglands haben einigen Fischen recht anzügliche Namen gegeben. Manche davon sind so einfallsreich, verächtlich und zutreffend, dass man sich wundern muss. Mr. Merriman und Mr. Warfel sammeln sie. Sie sammeln außerdem Geschichten über Block Island. Block Island liegt im Atlantik knapp fünfzehn Kilometer vor der Küste des Bundesstaats Rhode Island, zu dem es gehört; die Insel ist klein, beinahe baumlos und erinnert im Umriss an eine Auster. Die Strömung um Block Island ist tückisch und hunderte Schiffe sind an den Riffen und Sandbänken davor auf Grund gelaufen. Die Inselbewohner sind Fremden gegenüber abweisend, und auch Fischern vom Festland, die die Fanggründe um die Insel wie Hell Hole und Mussel Bed befischen, begegnen sie feind­selig. Im Gegenzug erzählen sich die Festlandbewohner schon seit Generationen haarsträubende Geschichten über die Insulaner und unterstellen ihnen Geiz und Strandraub.


Eines Winternachmittags umschiffte die Eleanor mit den beiden Ozeanographen an Bord auf der Rückfahrt von einem Fischzug nach Mussel Bed die Nordspitze von Block Island, Cape Cove. Es war ein sonniger, ruhiger Tag, und die Luft war so klar, dass der Leuchtturm an Montauk Point gut dreißig Kilometer südöstlich zu sehen war. Frank hatte das Ruder übernommen. Ellery, Mr. ­Merriman und Mr. Warfel saßen auf der Heckluke und aßen Hummer. Charlie lag auf dem Rücken im Rettungsboot und blätterte in einer Illustrierten namens Sunshine and Health, dem offiziellen Organ der FKK-Vereinigung American Sunbathing Association. Nach Popular Mechanics ist das seine Lieblingszeitschrift. Plötzlich schnippte Ellery mit den Fingern. »Beinahe hätt ich’s vergessen«, begann er. »Neulich hab ich eine Block-Island-Geschichte gehört. Johnny Bindloss hat sie mir erzählt. Johnny hat sie vor Jahren von seinem Großvater, dem alten William Park Bindloss gehört. Der war Steinmetz und hatte sich auf Leuchttürme spezialisiert. Er hat das South East Light auf Block Island gebaut und zwei Jahre drüben gelebt und kannte sich gut aus. In jenen Tagen, heißt es, verdienten die Inselbewohner ihren Lebensunterhalt vor allem mit dem Plündern gestrandeter Schiffe. An den Riffs havarierten den ganzen Winter über Schiffe, meist irgendwelche Küstenschiffe, und was sie an Bord hatten, wurde angespült. Tag und Nacht standen die Leute am Strand und zogen mit langen Stangen, die an der Spitze mit gekrümmten Nägeln versehen waren, Sachen an Land. Wrackhaken hießen die. Alle da drüben waren daran beteiligt – Kinder, Urgroßmütter, wirklich jeder, der halbwegs laufen konnte. Die Konkurrenz war so groß, dass sie sich auf eine verbindliche Wrackhakenlänge einigten. Alle mussten Haken von gleicher Länge benutzen. Zu jener Zeit kam ein Priester vom Festland auf die Insel und ließ sich dort nieder, um das Wort Gottes zu verbreiten und sich auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Inselbewohner hörten ihm zu, aber bezahlen wollten sie dafür nicht. Ungefähr im Februar war er dann stark abgemagert und heruntergekommen. Er war nur noch Haut und Knochen. Dass er auf der Insel verhungert, wollte aber auch niemand. Dann hätte er dort ja beerdigt werden müssen. Also berief man eine Versammlung ein und besprach sich. Ein Mann schlug vor, man solle für den Priester sammeln, aber er galt als etwas simpel gestrickt, und überhaupt war der Vorschlag so hirnrissig, dass er nicht mal diskutiert wurde. Ein anderer wollte, dass jede Familie dem Priester ein Pfund Kartoffeln oder eine oder zwei Rüben gibt, wieder andere waren dafür, ihm von jedem guten, dicken Fang einen übrigen Fisch abzugeben, wenn etwas übrig war. Aber man konnte sich nicht einigen. Bis spät in die Nacht wurde gestritten. Zuletzt entschieden sie, ihm einen Wrackhaken zu geben, der um fünf Zentimeter länger war als ihre eigenen. Wenn er damit nicht für sein Auskommen sorgen konnte, dann sollte er eben verhungern.«


»Übernimmst du mal das Ruder, Ellery?«, fragte Frank. »Dann erzähle ich auch eine Block-Island-Geschichte.«


Ellery erhob sich und ging ins Steuerhaus, um Frank abzulösen. Frank gesellte sich zu den anderen auf der Luke.


»Es gab einmal einen Fischer aus Stonington, der hieß Tucker Seabury. Jeden Herbst fuhr er rüber nach Block Island und fing für ungefähr einen Monat Kabeljau«, erzählte Frank. »Jahrelang hat er das gemacht. Tuck war ein Hagestolz und auch sonst etwas seltsam. Er kannte die Leute auf Block Island ganz gut, genau wie sie ihn. Im Laufe der Zeit mochten sie sich sogar, fast. Tuck war noch ein alter Leinenfischer. Er fuhr in einem kleinen Kahn raus und beugte sich über die Bordwand und ging mit Handleinen auf Dorsch. Das macht heute kaum mehr wer. Er hat immer am Ledge gefischt. Das Ledge ist ein ziemlich verstecktes Riff ein gutes Stück vor der Insel. Nur sein Ende ist mit einer Boje markiert. Eines Nachmittags war Tuck mit dem Kahn da draußen, so hat er’s jedenfalls erzählt, und der Dorsch war fröhlich am Beißen, so dass er alle Hände voll zu tun hatte, und als er nach einer Weile mal aufblickte, sah er einen Schoner auf das Riff zuhalten, einen der großen Küstenschoner. Es manövrierte zwischen Boje und Insel durch, um eine Abkürzung zu nehmen. Der reinste Irrsinn. Tuck in seinem Kahn sprang auf und fuchtelte wie wild mit den Armen und brüllte. ›Riff!‹, brüllte er. ›Riff! Riff! Riff! Allmächtiger, ihr haltet auf ein Riff zu!‹ Der Schoner drehte ab, gerade noch rechtzeitig, und jagte an der Boje vorbei aufs offene Meer hinaus. Nur ein bisschen weiter und es hätte eine Katastrophe gegeben. Tuck guckte zur Insel und sah, dass sich an der Anlegestelle eine Menge Insulaner versammelt hatten, Männer wie Frauen, und herübersahen. Tuck war zufrieden. Er dachte, wenn er zurückkäme, würden ihn die Leute für seine gute Tat loben. Als die Sonne zu sinken begann, ruderte er an Land. Noch immer standen viele Leute an der Anlegestelle. Tuck nickte ihnen zu und sagte ein paar Worte, so wie er es immer tat, aber kein Einziger gab Antwort. Die Inselbewohner standen nur da und glotzten ihn an. Unter ihnen war auch ein alter Mann, der Tucks bester Freund auf der Insel war. Schließlich warf dieser Alte Tuck einen abschätzigen Blick zu und sagte: ›Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Kram?‹«


Charlie im Rettungsboot legte seine Ausgabe von Sunshine and Health beiseite und richtete sich auf. »Das muss wohl zu der Zeit gewesen sein, als die alte Christine die Südspitze der Insel regierte«, meinte er. »Die alte Chrissy war ein wahres Teufelsweib und Anführerin eines Trupps Wrackplünderer. Die lockten Schiffe mit irreführenden Lichtsignalen auf einen falschen Kurs und brachten dann die Matrosen und Passagiere um, damit sie nichts verraten konnten. Das Umbringen übernahm immer die alte Chrissy. Sie hatte dafür einen großen Knüppel, und sie raffte ihren Rock und watete hinaus in die Brandung und erschlug die Männer, die an Land schwammen oder angespült wurden. Eines Nachts lotsten sie und ihr Trupp ein Schiff auf das Riff, und bald darauf wurden die Matrosen angespült, und die alte Chrissy watete hinaus und erschlug sie. Einer der armen Kerle, die da angeschwemmt wurden, war ein Sohn von Chrissy, der von der Insel aufs Festland gegangen war, um zur See zu fahren. Er blickte zu ihr hoch und sagte: ›Hallo, Ma.‹ Die alte Chrissy zögerte keinen Augenblick. Sie hob ihren Knüppel und zertrümmerte ihm den Schädel. ›Ein Sohn ist ein Sohn‹, sagte sie, ›aber Strandgut ist Strandgut.‹«



(1947)

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Joseph Mitchell

Joseph Mitchell

 (1908 – 1996) est né dans une ferme de tabac et de coton en Caroline du Nord (États-Unis).
Après de brèves études, il attire l’attention d’un éditeur grâce à un reportage et s’installe définitivement à New York en 1929. Il relate alors pour le Morning World et le Herald Tribune, puis pour le New Yorker, où il passera cinquante- huit ans, les rues de la ville et la vie des hommes qui les peuplent. Après la publication de ses articles sous forme de recueils, il s’est vu récompensé par l’Académie des Arts et des Lettres en 1965 et par le prix de littérature de Caroline du Nord en 1984. Sa passion pour ceux qu’il refuse d’appeler les petites gens, son intérêt pour les marginaux et les oubliés du rêve américain, son style élégant et soigné ainsi que son humour caustique en font l’un des inventeurs d’un nouveau journalisme de terrain et lui ont valu le surnom de « parangon des reporters ».

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Joseph Mitchell: Zwischen den Flüssen

Joseph Mitchell

Zwischen den Flüssen
New Yorker Hafengeschichten

Traduit par Sven Koch et Andrea Stumpf

relié, 268 pages

Joseph Mitchells sechs lange Reportagen über New York und seine Hafengegend sind längst legendär. Auf seinen Wegen zwischen Hudson River und East River, Staten Island, Fischmarkt und Fährhafen begegnet er Außenseitern und Exzentrikern und lässt sich von den Gerüchen und den Geschmäckern des Hafens faszinieren. Umgetrieben von den Nischen und Lücken der allgemeinen Geschichtsschreibung, schreibt er von einem leerstehenden Hotel über einem geschäftigen Fischrestaurant, vom Leben der Ratten, die von den Schiffen in den Hafen strömen, vom Kapitän der größten Fischereiflotte der Region und von anderen Menschen, die auf die eine oder andere Weise alle mit dem New Yorker Hafenviertel verbunden sind.