Gianluca Solla, Chiara Zamboni: Department
Department
(p. 75 – 80)

Die Schaffung von Freiräumen als Widerstandspraxis

Gianluca Solla, Chiara Zamboni

Department

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Die aktuelle Krise der Universität ist nicht nur auf sie beschränkt. Sie ist vielmehr das Produkt einer Zeit, die eine umfassende Verschiebung von Bedeutungen erlebt, einer Zeit, in der die symbolischen Ebenen der Realität verschwimmen. Daher rührt auch die Schwierigkeit zu sagen, was mit uns geschieht und wie wir am besten darauf reagieren sollten. Es ist dieselbe Schwierigkeit zu wissen, wo und wie man neue Räume der Kreativität öffnen kann und worauf die Kritik (↑ Bildung, kritische) zu richten ist.

Die jüngste italienische Mobilisierung an den Universitäten richtet sich gegen die durch die rasche Anpassung an die europäischen Standards von Bologna (↑ Bologna-Prozess) bedingte programmatische Umstellung der universitären Studiengänge. Es handelt sich dabei in erster Linie um eine Mobilisierung gegen die Natur dieser Standards sowie gegen die durch die jüngste Mitte-Rechts-Regierung verabschiedeten technokratischen Reformen. Anders als in der Vergangenheit ist es nun den Protesten gelungen zu zeigen, dass die institutionellen Orte auch ganz anders erlebt werden können als dies von den neuen Reformen vorgesehen war.

Die technokratischen Reformen haben unter anderem zur Auflösung der traditionellen Einrichtungen an den Hochschulen geführt. Umso mehr wollen wir uns mit der Frage befassen, was es heute bedeutet, über die Gegenwart der Universität und die gemeinsame Erfahrung ihres symbolischen Reichtums nachzudenken. Insbesondere möchten wir dabei die von der Universitätsreform vorgesehene Einrichtung des Departments, das die traditionellen Institute ersetzt hat, zum Gegenstand unserer Überlegung machen.

Im Gegensatz zu den Instituten, die zumeist durch ihre weitgehende fachliche Einheitlichkeit gekennzeichnet waren, hat das Department eine Heterogenität hervorgebracht, die uns zwingt, unsere eigene Präsenz in einem veränderten Kontext zu hinterfragen. Denn diese aus Sparmaßnahmen vorgenommene und scheinbar nur organisatorische Veränderung impliziert eine tiefgreifende Transformation des akademischen Feldes.

Departments existierten freilich auch früher an den italienischen Universitäten. Doch während das alte Department auf einer wesentlichen Homogenität der wissenschaftlichen Herkünfte und Interessen der Beteiligten beruhte, ist das neue Department aufgrund seiner Größe dazu genötigt, sehr unterschiedliche ↑ Kompetenzen, wissenschaftliche Traditionslinien und Horizonte zu vereinigen. Die ministeriellen Richtlinien der Reform bestehen darin, ohne jegliche Rücksicht auf Affinitäten der wissenschaftlichen Verhältnisse immer größere Forschungszentren zu unterstützen. Im Fall der Universität Verona, an der wir lehren, hat dies z.B. zu einem Zusammenfluss von Philosophen, Pädagogen und Psychologen in eine einzige Abteilung geführt.

Doch dank der Mobilisierung und der Proteste, die vor allem von den Studenten und den ricercatori1 ausgingen, wollen wir heute versuchen, in der Heterogenität der Departments die Möglichkeit zu erkennen, die dringend notwendige Demokratisierung des universitären Lebens voranzutreiben. Voraussetzung dafür ist unsere Überzeugung, dass an der Universität viel mehr und auch ganz anderes passiert als das, was von den disziplinären Codes, den ministeriellen Richtlinien und dem bürokratischen Apparat vorgesehen ist. Denn die Vorstellung, der zufolge die Universität auf ein Dispositiv bloßer Wissensübertragung reduziert werden kann, ist Teil einer Agenda, der das Denken, das Wissen, das Experimentieren und Forschen zunächst fremd bleiben. Die Frage ist, wie wir, die wir in der Universität einen viel weiter gefassten symbolischen Reichtum erkennen, uns dazu verhalten.

Unter den operativen Einrichtungen der Universität interessiert uns vor allem das Department, weil dort die direkte Präsenz aller Dozenten sowie des gesamten Verwaltungspersonals – und nicht die Repräsentanz dieser Gruppen – zählt. Gerade aufgrund dieser direkten Präsenz und Teilnahme aller Universitätsangehöriger kann das Department zum Ort der Auseinandersetzung werden: zum Ort der Auseinandersetzung über die Bedürfnisse und die Bedeutung von Lehre und Forschung sowie über die politischen Entscheidungen an der Universität. Als Ort einer Politik in presentia und der Präsenz scheint uns das Department – trotz der engstirnigen technokratischen Reformen – der Ort zu sein, an dem die Anforderungen, Bedürfnisse und Mängel der Universität öffentlich gemacht werden können. Hier glauben wir die Chance zu erkennen, jenseits der Verwaltung des universitären Lebens den nicht formalisierbaren Charakter eines wissenschaftlichen, lernenden und lehrenden Lebens als die wichtigste Ressource für die Universität selbst zum Ausdruck zu bringen (↑ Austauschbarkeit).

Auch wenn es notwendig ist, mit den Formalisierungen einer Institution zu rechnen, darf man darüber nicht vernachlässigen, was nicht formalisiert werden kann: so z.B. die Singularität jeder einzelnen Präsenz, die im Department das Wort ergreift. Weder eine Kultur noch ein Wissen entstehen, wenn die singuläre Differenz eines jeden diskreditiert wird. Wo die Differenz missachtet wird, verzichtet man auf die Fähigkeiten der Einzelnen. Eine Kultur und ein Wissen entstehen hingegen nur, wenn die Fähigkeit der Einzelnen ihren Ausdruck findet, Verantwortung für ihren jeweiligen Kontext zu übernehmen.

Die Bewegung der ricercatori, die im Zeichen des Protestes gegen die ministerielle Reform des Hochschulsystems entstanden ist, agiert in diesem Sinne. So ist die Bewegung nach den ersten Protesten schnell zum Treffpunkt derer geworden, die, obwohl im gleichen Kontext arbeitend, im normalen Betrieb nie Gelegenheit hatten, sich politisch zu begegnen und auszutauschen. Gegen den statischen Charakter der Hierarchie haben die ricercatori die Möglichkeit einer neuen, noch nicht erlebten Mobilisierung aufgezeigt. So hat der Protest auch dazu beigetragen, dass die im Department herrschende direkte Partizipation mehr und mehr genützt wird, schnelle Entscheidungen, die vorab im kleinen Kreis schon getroffen worden sind, zu unterlaufen und vielmehr wieder einen Raum für Fragen und Diskussion zu eröffnen, und dies über die Idee der Interessenvertretung einzelner Gruppen hinaus.

Insofern begrenzt sich diese Mobilisierung nicht auf einen bestimmten Kontext (denjenigen der ricercatori zum Beispiel), sondern als Instanz der Veränderung überträgt sie sich auch auf das Verwaltungspersonal sowie die Professorenschaft. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass diese Proteste nicht so sehr zu neuen Formen der gewerkschaftlichen Vertretung führen, sondern dass sie in eine noch nie dagewesene Partizipation umschlagen, die in der Lage ist, über die Logik der Interessen einer Berufskategorie hinauszugehen. Tatsächlich gibt es zwischen den politischen und den rein korporativen Bewegungen (↑ Korporatisierung) eine substantielle Differenz. Während letztere dazu bestimmt sind, die Interessen einer mehr oder weniger schmalen Gruppe zu sichern, wächst in den ersteren das Bewusstsein, eine gemeinsame Instanz zu sein, die fähig ist, den aktuellen Reformen eine andere Wendung zu verleihen. Wenn dies der Fall ist, dann entsteht hier vielleicht ein neuer und anderer Raum für Formen des Wissens und des Diskurses, die die bestehenden Machtverhältnisse verändern können.

Es hat sich gezeigt, dass auch die italienische Studentenbewegung ein solches Potential besitzt. Im Vergleich zu den üblichen, zum Teil stereotypen Verhaltensweisen und Handlungsformen des Protests zeichnet sie sich durch einen politischen Reifeprozess aus, in dem ein lebendiges Wissen artikuliert wird. Eine solche Erfahrung ist in der Lage, das universitäre Feld zu verändern, insofern sie nicht nur das Verhältnis zwischen den Studenten, sondern auch dasjenige zwischen Studenten und Hochschullehrern betrifft. Lernen, die Universität anders zu denken und in ihr anders zu handeln, heißt, im Sinne der Autonomie des Denkens und Handelns an der Transformation der Universität in einen Ort der politischen Bildung mitzuwirken.

Für diese lebendige Transformation scheinen uns drei Momente entscheidend, Momente, die in der Universität vorhanden sind, die aber noch zu ihrer eigentlichen Aufgabe gemacht werden müssen:

1) die Aktualisierung eines kritischen Wissens als einer gemeinsamen Instanz;

2) die Ausübung von Praktiken, die ausgehend von einem demokratisch ausgerichteten Department sowohl eine Diskussion über die Universität als auch eine politische Teilnahme in erster Person ermöglichen;

3) die Praxis des Unterrichtens, in der jedem Dozenten sowohl die Wahl der Themen als auch die Art und Weise seiner Lehre frei steht; diese Praxis betrachten wir als innigen Zusammenhang zwischen Lehr- und Lernfreiheit.

Diese drei Punkte sind eng miteinander verbunden: Wo einer fehlt, fehlen zwangsläufig auch die anderen. Aus einer politischen Perspektive ist für uns insbesondere entscheidend, was wir als dritten Punkt beschrieben haben. Das Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden ist nicht nur grundlegend für das lebendige menschliche Gewebe, das wir Universität nennen. Vielmehr ist es gerade dieses Verhältnis, das die Universität ernährt. Obwohl es weitgehend unterschätzt wird, weil es zur alltäglichen Erfahrung gehört und als solche oftmals als bloßer Teil einer beruflichen Pflicht verstanden wird, besitzt dieses Verhältnis, ganz entgegen dieser Auffassung, ein großes Transformationspotential, denn es handelt sich um eine offene Bewegung auf etwas zu, das erst im Prozess entdeckt werden kann. Es impliziert zudem die Annahme eines Risikos, da der Austausch immer auch einem möglichen Scheitern der gemeinsamen Sinnstiftung ausgesetzt ist.

Das Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden ist der Raum, in dem, trotz der immer knapperen Studienzeit, ein Experimentieren des Lehrens und des Lernens stattfinden kann. Im Gedankenaustausch zwischen Studierenden und Lehrenden erhalten die Transformationen der Realität einen sprachlichen Ausdruck (↑ Korrektur). Erst so kann eine Diskussion darüber stattfinden, wie man in Bezug auf solche Transformationen handeln kann.

Lehren und Lernen: Es handelt sich dabei nicht um programmierbare, objektive Faktoren, sondern um Erfahrungen, über die zwar berichtet werden kann, die aber nicht antizipierbar sind. Sie machen Sinn erst in den Prozessen, aus denen sie hervorgehen (↑ Vorlesung2). Nur teilweise sind solche Prozesse bewusst und lassen sich anderen zeigen. Der Versuch, sie zu verstehen und mit ihnen umzugehen, erhöht unser Bewusstsein und unsere Fähigkeit, mit Kreativität und Genauigkeit im Unterrichtsraum und in anderen Lernsituationen zu handeln und zugleich darüber nachzudenken.

Die Begegnung von unterschiedlichen singulären Erfahrungen regt den Kreislauf des lebendigen Denkens an. Sie besitzt eine Kraft, die uns antreibt und uns ins Spiel mit anderen setzt. Es ist z.B. bei weitem nicht gleichgültig, ob unsere Gesprächspartner Frauen oder Männer (↑ Gender Mainstreaming) sind, in der Tat hat dieser Unterschied vielfältige Konsequenzen. Die Präsenz der anderen verleiht uns eine Kraft, die uns jenseits des schon Kodifizierten und Gedachten führt. Die Präsenz der anderen hat ein Potential, das fähig ist, die schon vorhandenen Verhältnisse sowohl anzuziehen als auch abzustoßen, kurz: umzuschlagen.

Daher stellen wir die Praktiken des Denken-Lehrens und Denken-Lernens in den Mittelpunkt unserer Reflexion. Nur ausgehend von solchen Praktiken wird es möglich sein, die institutionell vorgesehenen Orte zu Orten einer gelebten Demokratie zu machen. Diese Praktiken haben in der Tat eine instituierende Macht, die anders und solider ist als die Macht der universitären Verwaltungsstrukturen (↑ Koordinator/in, gescheitert). Sie einzig sind in der Lage, mit den gegebenen Bedingungen zu experimentieren. Ihr Wert hängt allein davon ab, wie sich die Einzelnen in dieses Experimentieren einbringen. Da es sich dabei um keine isolierten Faktoren handelt, wäre es interessant, die bereits existierenden Praktiken an unseren Universitäten gleichsam kartographisch aufzuzeichnen. Dazu gehören Schreibworkshops, Workshops für die Diskussion der Abschlussarbeiten, studentische Tagungen, die Bildung von unabhängigen Kollektiven und außercurricularen Arbeitsgruppen, etc. Es handelt sich dabei in der Regel um freie Räume, die von Lehrenden, von Studierenden oder auch gemeinsam initiiert worden sind. Sie haben keine institutionelle Anerkennung und streben auch nicht danach. Kein staatliches Gesetz hat sie verursacht, sondern allein das Begehren derjenigen, die daran teilnehmen, die auch jedes Mal die Form, das Tempo und die Weise ihrer Teilnahme entscheiden, allesamt Faktoren, die nicht gesetzlich festgelegt werden können.

Auch wenn diese Praktiken in einer technokratischen Gesellschaft oft als Störfaktor und als Verlangsamung der dezisionistischen Verfahren der Führung oder der Verwaltung angesehen werden, zeichnen sie sich durch einen zwischenmenschlichen Mehrwert aus, in den zu investieren wesentlich ist. Im Gegensatz zur Vorstellung von einer Harmonisierung der Konflikte und zu der daraus folgenden Auslöschung der Unterschiede glauben wir, dass es möglich ist, »zu tun«, d.h. die Universität zu dem Ort zu machen, in dem auch »anderes« als von der Regel vorgesehenes passiert: Wenn dies der Fall ist, dann ereignet sich Bildung nicht nur als Wissensübertragung, sondern vor allem als Transformation, als singuläre Reifung eines Denkens im gemeinsamen Austausch.

Die Praktiken sind Prozesse, in denen es um lebendige Verhältnisse geht. Wenngleich es unvermeidlich ist, dass auch sie sich selbst Regeln geben, ist es zugleich aber auch notwendig, dass die Regeln den allmählich während des Prozesses auftretenden Bedürfnissen, Wünschen, Ereignissen und Schwierigkeiten angepasst werden. Allein so kann eine Praxis lebendig bleiben. Ansonsten ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die Regeln entleeren, reine formale Applikation bleiben; was dazu führt, dass sie das lebendige Gewebe der Verhältnisse, das an sich nicht formalisiert werden kann, zerstören.

Von der gemachten Erfahrung zu lernen, heißt auch, die in ihr vorhandenen Niederlagen anzuerkennen, zugleich aber auch das Begehren zu spüren, das diese Erfahrung weitertreibt. Dies impliziert, die Voraussetzungen, unter denen der Transformationsprozess begonnen wurde, immer wieder revidieren zu müssen. Erst das macht diesen Prozess spannend für diejenigen, die daran teilnehmen.

1 Wörtlich »Forscher«, eine akademische Position in Italien, die in etwa dem deutschen Mittelbau entspricht, allerdings mit wesentlich weniger Lehrdeputat und klarem Forschungsauftrag.

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Unbedingte Universitäten (éd.): Bologna-Bestiarium

Unbedingte Universitäten (éd.)

Bologna-Bestiarium

broché, 344 pages

PDF, 344 pages

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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