Stefan Heidenreich: Netz
Netz
(p. 249 – 253)

Im blinden Fleck der Bologna-Reformer

Stefan Heidenreich

Netz

PDF, 5 pages

Das Netz liegt im blinden Fleck der Bologna-Reformer (↑ Bologna-Prozess). Denn Bürokraten verwalten die Welt, wie sie ist, nicht wie sie wird. So kommt es, dass man an vielen Orten über die digitale Revolution und das Netz redet, wenn es um Fragen der Universität geht, in Europa aber über ↑ Module, Punktesysteme (↑ Leistungspunkte/ECTS) und Verwaltungs-Routinen.


Was macht die Universität mit dem Netz? Oder vielleicht doch eher anders herum gefragt: Was macht das Netz mit der Universität? Diese beiden Sätze fragen nicht nach Variationen desselben, sondern nach etwas ganz anderem.

Betrachten wir’s am Beispiel der Bibliothek, der anderen großen Institution der Bildung. Was macht die Bibliothek mit dem Netz? Sie stellt ihre Kataloge online. Sie führt Datenbanken. Sie lässt uns Bücher besser finden, schneller bestellen. Sie benachrichtigt Leser, wenn deren Leihfristen ablaufen. Sie organisiert ihren Betrieb besser, schneller und einfacher.

Aber was macht das Netz mit der Bibliothek? Es macht sie überflüssig. Denn wenn erst und endlich alle Bücher digitalisiert sind und Wissen, wie es sich für freie Wissenschaft gehört, frei zirkuliert, dann genügt eine einzige Bibliothek. All die übrigen können wir mittelfristig zumachen und umnutzen. Denn die eine Bibliothek braucht keine Mauern und keine Hallen mehr, es sei denn für ihre Server. Tatsächlich gibt es sie schon, die digitale Bibliothek, wenngleich nur in der sogenannten »Illegalität«. Denn die Verlage von gestern wollen ihr gutes Geschäft mit den Institutionen der Wissenschaft nicht aufgeben, sondern weiterhin teure Zeitschriften oder Journale drucken und Wissen zwischen Buchdeckeln verstecken, anstatt es ins Netz zu stellen. Nur deshalb haben wir noch Bibliotheken. Sie sollen das Wissen von uns fern halten. Der Teil der Welt, dem es zuerst gelingt, diese Schranken zu überwinden, wird die Wissenschaften des nächsten Jahrhunderts hervorbringen. So stehen die Chancen von China, sich mit einem Mal an der Spitze der Forschung wiederzufinden, gar nicht so schlecht.


Was aber macht das Netz mit den Universitäten? Das Muster der Bibliotheken lässt sich nicht ohne Weiteres auf die Institution der Universität übertragen. Fragen wir wieder von beiden Seiten her. Was macht die Universität mit dem Netz? Sie stellt Semesterpläne online. Sie verwaltet Seminare online (↑ Schalter). Vielleicht arbeiten hin und wieder Studenten in Wikis. Dozenten, Algorithmen und manchmal auch Studenten wachen darüber, dass Minister oder Studenten ihre Haus-, Magister-, und Doktorarbeiten nicht im Netz zusammengoogeln. Obgleich doch genau das die richtige Antwort auf ihre falsch gestellten Fragen wäre.


Aber was macht...

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Unbedingte Universitäten (éd.): Bologna-Bestiarium

Unbedingte Universitäten (éd.)

Bologna-Bestiarium

broché, 344 pages

PDF, 344 pages

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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