In seinem kleinen Handbuch phantastischer Zoologie hat der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges gemeinsam mit Margarita Guerrero von der Geschichte des »Hundertköpflers« (El Cien Cabezas) berichtet, der eines Tages ins Netz geschäftiger Fischer gegangen sein soll. Als man nach unendlichen Mühen das riesige Tier an Land zu ziehen vermochte, zeigte sich, dass es einen Affenkopf, einen Hundskopf, einen Pferdekopf, einen Fuchskopf, einen Schweinskopf, einen Tigerkopf, ja eine ganze Hundertschaft von Köpfen besaß, die es den Fischern entgegenstreckte. Allein der Buddha – denn natürlich spielt Borges’ Geschichte im Reich der Mitte – errät die Herkunft des Ungeheuers und vermag den hundert im Sterben liegenden Köpfen ihr Geheimnis zu entlocken. Worin besteht dieses Geheimnis?
Borges’ Buddha liefert eine einleuchtende Erklärung: In seinem Vorleben war das Tier ein Mönch gewesen, der alle anderen an Intelligenz übertraf. Kein anderer verstand es wie dieser Brahmane, auf so blendende Weise die heiligen Schriften auszulegen. Irrten sich seine Gefährten, so beschimpfte er sie nicht selten als Affenkopf, Hundskopf und dergleichen mehr. Bei seiner Wiedergeburt, seiner Reinkarnation aber verkörperte der Mönch all jene Worte, mit denen er seine Zeitgenossen bedacht hatte, bevor er aus ihrer Mitte gerissen wurde. All das, was er anderen an den Kopf geworfen hatte, wurde nun zu seinem Kopf, zu seinem eigenen Leib und Leben. Die Geschichte eines Textdeuters, eines exzellenten Philologen, erzählt von einem Textkünstler, der im ↑ Bestiarium der Literaten der Welt längst einen herausragenden Platz einnimmt.
Der Hundertköpfler, mit dem wir es hier zu tun haben, ist folglich ein textkundiger Mönch und Brahmane: ein studierter Gelehrter, der eigentlich wissen müsste, dass die Worte unser Leben sind – und dass wir vielleicht kein anderes Leben haben als in den Worten, seien es die unsrigen oder die der anderen (↑ Lektürekurs). Und dass das, was wir finden, und das, was wir erfinden, alles umfasst, was wir leben und erleben können. Kurzum: Der Mönch bekam am eigenen Leib zu spüren, wie das Leben der anderen, wenn es in unsere Worte fließt, unserem Leben immer neue Gesichter gibt, unserem Leben immer neue alte Fratzen schneidet. Gesichter, die wir eigentlich nicht haben wollen, die wir aber gerade dann bekommen, wenn wir sie wortwörtlich (in den Mund) nehmen.
Wir müssen also vorsichtig und vielleicht mehr noch listig sein, wenn wir uns dem Bestiarium von Bologna nähern. Denn wer ist schon davor gefeit, bei nächster Gelegenheit selbst zu einem Affenkopf, einem Hundskopf, einem Pferdekopf, einem Fuchskopf, einem Schweinskopf, einem Tigerkopf zu werden? Dabei soll es, wie das Beispiel des intelligenten Mönches zeigt, den Jorge Luis Borges erfand, um sich später in Umberto Ecos Der Name der Rose seinerseits als Mönch reinkarniert wiederzufinden, um die ↑ Eliten gehen, genauer: um jene sehr besonderen Eliten, die der ↑ Bologna-Prozess geradezu »natürlich« schuf, ohne dass sich dies jemand vorgenommen hätte. Neue Eliten, zweifellos, und doch nicht ohne Tradition. Neue Eliten, die den Bologna-Prozess wie die Exzellenz-Initiative (↑ Exzellenz) mehr als alles andere stabilisieren, weil sie diesen Prozessen selbst ihren eigenen Aufstieg, ihren eigenen Erfolg verdanken. Das ist nur legitim und ganz in der Tradition jedweder Elitenbildung.
Man mag oder könnte dem Vorherigen entnehmen, dass diese Bologna-Eliten einem neuen Handbuch phantastischer Zoologie entsprungen seien. Es sind keine Fabelwesen. Sie entstammen gewiss noch der Genealogie jener großen Gelehrten, welche die heiligen Schriften am besten zu deuten verstanden. Doch anders als der Mönch in Borges’ Bestiarium warfen sie in ihrem Vorleben den Weggefährten keine Schimpfwörter an den Kopf, sondern sammelten schon früh und gerührt Worte wie Intelligenz und ↑ Kompetenz, Kohärenz und Konsistenz, Effizienz und Exzellenz, die auch in anderen Sprachen so vertraut geklungen haben. Sie entschieden sich nicht für die hergestellte Dummheit (der anderen), sondern für die (eigene) inszenierte Intelligenz. So sind schon viele mit der Exzellenz auf den Lippen zu Exzellenzen geworden. Haben sie sich selbst einen anderen Kopf aufgesetzt oder anderen den Kopf verdreht? Aber wen kümmert’s, wer spricht: Allein das Ergebnis, das mehr ein Erlebnis von Exzellenz als deren vorfindbare Präsenz ist, zählt.
Denn Exzellenz – oder genauer: die Rede davon – kann folglich aus der feldsoziologischen Perspektive betrachtet eine bewusste Karrierestrategie sein. Und eine erfolgreiche allemal. Denn Worte machen Köpfe. Allein das Reden über Exzellenz genügt freilich nicht, um selbst exzellent oder zur Exzellenz zu werden. Welche anderen Verfahren sind dazu notwendig? Und ab wann können den Worten Orte entnommen werden?
Die Ant-Wort gibt uns noch einmal der »Hundertköpfler«, der nicht nur »vom Kharma einiger Worte geschaffen« wurde, sondern auch durch »seinen posthumen Nachhall in der Zeit«, wie Borges’ Bestiarium zu berichten weiß. Inwiefern aber ist es die Zeit, die darüber entscheidet, was exzellent ist oder was Exzellenz wird – und was eben nicht?
Bologna-Prozess und Exzellenz-Initiative verbindet nicht zuletzt eines: der entschlossene Versuch, die Zeit zu kontrollieren, zu beherrschen und wo irgend möglich zu beschleunigen. Wenn Modularisierung (↑ Modul) und Quantifizierung zu Instrumenten dafür werden, die Zeit des Studiums zu reduzieren, die Zeit der Studierenden über workloads zu kontrollieren, die erhöhte Verfügbarkeit der Lehrenden zu implementieren und durch stark aufgeblähte Verwaltungen, die an alle immer neue Aufgaben verteilen (↑ Schalter), zu reglementieren, dann zeigt dies nur die gut sichtbare Seite der exzellenten Arbeit an der Zeit. Doch sie ist vor allem eines: Arbeit am Mythos.
Denn die andere Seite dieser Arbeit an der Zeit betrifft die Selbstinszenierung der neuen Eliten selbst. Sind sie nicht Herren der Zeit, die vor allem auf eines abzielen: auf eine immense Beschleunigung aller Prozesse? Da kann es schon einmal vorkommen, dass eine entschlussfreudige Dekanin einem Institut nicht mehr als drei Wochen zugesteht, um einen neuen Studiengang zu entwickeln, da die verwaltungstechnische Seite mehr als sieben Monate in Anspruch nehme, zum Wintersemester aber alles funktionstüchtig »ans ↑ Netz gehen« müsse
(↑ Koordinator/in, gescheitert). Und ebenso kann es vorkommen, dass ein Wissenschaftsminister voller Tatendrang und Energie aus zwei Hochschulen eine einzige – dafür aber eine »Bologna-Universität« – macht, wobei die betroffenen Hochschulleitungen erstmals davon aus der Presse erfahren. Stets steckt ein zeitbewusstes Machtkalkül dahinter: Wer mit dieser Geschwindigkeit nicht mithalten kann, wird einfach überholt und gilt als überholt. Derartiger Aktionismus höchster Beschleunigung täuscht Entschlussfreude, Durchsetzungsvermögen und überlegene Intelligenz vor: Exzellenz eben.
Bei der hohen und offensiv an den Tag gelegten Geschwindigkeit stört nur wenig, dass die administrativen Vorgänge aufgrund der weiter steigenden Bürokratisierung immer längere Zeitspannen in Anspruch nehmen. Die entstandenen Eliten lassen sich auch ungern an ihren Ergebnissen messen: evaluiert (↑ Evaluation) und akkreditiert, diszipliniert und formatiert werden immer die anderen. Denn die eigenen Entscheidungen sind exzellent an sich und überdies längst getroffen, sodass die Zeit für die »Umsetzung« dieser Beschlüsse unter Kontrolle ist. Wohlgemerkt: nicht die Gegenstände, sondern die Zeit.
Die vorgelegte – und bisweilen auch vorgetäuschte – Geschwindigkeit hat einen Namen: Sie ist velociferisch. Auch hierfür hält die Literatur ihr jeweils zeitbedingtes und doch über die eigene Zeit hinausgehendes Lebenswissen bereit.
In Hinblick auf seine eigene Zeit, in der eine Vielzahl von Welt-Komposita (vom Weltverkehr und Welthandel über den Weltfrieden bis zum Weltbewusstsein) entstand und die man mit guten Gründen bis weit in den Beginn des 19. Jahrhunderts hinein als die zweite Phase beschleunigter ↑ Globalisierung bezeichnen darf, hat Johann Wolfgang von Goethe von einem »velociferischen Zeitalter« gesprochen. Die durchtriebene Wortschöpfung jenes Schriftstellers, der mit seinen Formulierungen 1827 dem Begriff der »Weltliteratur« die entscheidende prospektive Ausrichtung gab, vermittelt der von ihm konstatierten wachsenden Geschwindigkeit jenen luziferischen Aspekt, der sie als teuflisch schnelle Akzeleration erkennen lässt. Kein Zweifel: Es liegt etwas faszinierend Diabolisches in der Verknappung der Ressource Zeit.
Diese Beschleunigung, die auch unsere aktuelle vierte Phase beschleunigter Globalisierung auszeichnet, lässt sich nicht nur im makroökonomischen oder politisch-sozialen Umfeld nachweisen, sondern prägt selbst auf der institutionellen Ebene jene Mikrophysik der Macht, als deren Wasserzeichen eine möglichst hohe Geschwindigkeit (oder deren Vortäuschung) erkennbar ist. Wenn uns der »Hundertköpfler« aktueller Eliten also aus vielen Gesichtern, aus vielen Mündern die präfabrizierten Schlagworte (↑ Bologna-Glossar) vielhundertfach entgegenruft, dann sollten wir nicht vergessen, dass dies die Macht einer velociferischen Kontrolle über die Zeit ist, in der es nicht mehr vorrangig um das Entfalten von Komplexität, sondern um das Gestalten von Velocität geht. Macht macht schnell. Diese Verlagerung auf die fast thinkers, auf die unbedingten Vertreter einer neuen (trans-)medialen Geschwindigkeit, von der der Feldsoziologe Pierre Bourdieu wusste, bekommt der Universität aber nicht. Ferndenken ist im Minuten-Format des Fernsehens nicht zu haben.
Die neuen Bologna- und Exzellenz-Eliten zeichnen sich nicht durch die Entfaltung komplexen Denkens, sondern einer möglichst hohen Handlungsgeschwindigkeit aus, die allem reiflichen Überlegen immer schon zwei Schritte voraus sein muss, damit ihre Macht, die auf der Beschleunigung – und damit Verknappung – von Zeit beruht, nicht in Gefahr gerät, kritisch reflektiert zu werden. Eine Studienordnung löst die andere ab, ein Exzellenzprogramm das andere. Wege zurück kann es nicht geben, die Trümmerberge der Kollateralschäden versperren die Sicht.
Im Bestiarium von Bologna bilden die velociferischen Exzellenzen folglich längst eine neue Spezies aus, die sich durch proklamierte Programmatik und teuflischen Tatendrang ausweist. Sie reden von Zukunft, weil es ihnen um die Beherrschung der Gegenwart geht. Sie sprechen mit hundert Köpfen und bilden doch denselben einzigen Körper. Sie gehen nicht ins Netz, sie sind es.
Die Exzellenz als selbstinszenierte Intelligenz verbreitet dabei den Mythos von Effizienz, der gerade darum besteht, weil er sich nicht recht überprüfen lassen will. Durchlässigkeiten zwischen unterschiedlichen nationalen Bildungssystemen wollen nicht steigen, Studienabbrecherquoten wollen nicht sinken, Durchschnittszeiten für Dissertationen wollen nicht fallen. Umso besser: So folgt Reform auf Reform auf Reform. Und umso wichtiger ist die gezielte Arbeit am Mythos, an jenen Mythen des reformierten wissenschaftlichen Alltags, in denen Intelligenz und Exzellenz wie Naturphänomene erscheinen, weil sie in Form von Zeitmanagement und Akzeleration messbar zu sein vorgeben. Exzellenz wird dadurch erzielt, dass die Mittel ungleich verteilt werden. Das Schöne dabei ist, dass endlich auch die Geisteswissenschaften an Orten der Exzellenz so sorglos und verschwenderisch mit Geldern umgehen können, wie dies in den Naturwissenschaften schon lange der Fall ist. So haben wir erstmals wieder eine Art der Gleichstellung erreicht. Schade nur, dass sich the rest gegenüber the best künftig als Jäger und Sammler im Trümmerhaufen betätigen muß. Einstürzende Neubauten zeigen die Zeichen der Zeit.
Doch diese Zeit ist begrenzt. Daher müssen Akkreditierungen und Evaluierungen auch nach dem Schema der Casting Shows im Fernsehen ablaufen: blendend und blitzartig. Die Logik ist für alle transparent. Denn wer nicht in zehn Minuten alle Punkte auf den Punkt bringen kann, wird in der Folge auch mit keinem Punkt belohnt (↑ Leistungspunkte/ECTS). Die allgegenwärtige Logik des Casting ist zu einer neuen Mythologie geworden, die sich gerade deshalb so effizient durchgesetzt hat, weil sie auf Zeitverknappung und scheinbare Transparenz setzt.
Das hat Konsequenzen auch für den hier vorgelegten Text. Denn das in diesem Beitrag Vorgestellte sollte, will es gehört werden, in nicht mehr als zehn Minuten lesbar sein. So bleibt für die Lösung der hier angesprochenen Problematik noch eine ganze Minute Zeit. Mit welchem content ließe sie sich füllen?
Sehen wir den Erfolgen, aber auch den viel weitreichenderen Folgen ins Gesicht, in die Gesichter. Gewiss haben der Bologna-Prozess und die Exzellenz-Initiative neue Kräfte entfesselt und eine ungeheure Dynamik entfaltet. Das gesamte akademische Feld mit all seinen Eingeborenen und Zuzüglern, mit seinen Migranten, Nomaden und Durchreisenden ist in eine ungeheure Bewegung und eine noch ungeheuerlichere Beschleunigung versetzt worden. Doch war das einzige, was wirklich entfesselt wurde, eine bürokratisch avancierte Selbstfesselungskunst, die gerade an deutschen Universitäten eine neue Generation artistischer Akrobaten entstehen ließ: Zauberkünstler des Velociferischen.
Es führt kein Weg zurück zur Humboldt’schen Universität. Zumindest dann nicht, wenn wir damit lediglich das zu seiner Zeit bahnbrechende Modell Wilhelm von Humboldts meinen. Das Humboldt’sche Modell wäre jedoch ein anderes und unvergleichlich zukunftsträchtigeres, nähmen wir Alexander von Humboldt, den ersten Globalisierungstheoretiker, auf kreative Weise mit hinzu. Die Einheit von Forschung und Lehre, die Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden, würde dann eine scientific community bilden, die weiß, dass sich die Welt nicht nur von einer einzigen Sprache her verstehen lässt, die weiß, dass unser Wissen nicht nur transareal in Bewegung gesetzt, sondern auch transareal hervorgebracht werden muss, die weiß, dass sich ihr weltbewusstes Denken nur dann selbstbewusst entfalten kann, wenn der Zeit Zeit gegeben wird. Andernfalls werden die Fischer in ihren Netzen nur vielköpfige Ungeheuer an Land bringen.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.