Reiner Schürmann: Wie ich mit meinem ganzen Körper die Vergangenheit zermalme
Wie ich mit meinem ganzen Körper die Vergangenheit zermalme
(p. 195 – 218)

»Ich bin nicht gut im Vergessen. Ich kann es überhaupt nicht«

Reiner Schürmann

Wie ich mit meinem ganzen Körper die Vergangenheit zermalme

in: Ursprünge, p. 195 – 218

Herman beharrt. Dreimal mindestens habe ich seinen Blick auf mir gespürt. Das erste Mal am Tag nach dem Kongreß. Ich betrachtete die Weihnachtsdekoration in einer Straße mit Fertigbungalows. Vor den Häusern gab es Engel, Rehe, Gipsmadonnen und Weihnachtsmänner auf einem Schlitten, den acht Rentiere vom Nordpol her zogen. Ich stand vor einem aufblasbaren Weihnachtsmann, umringt von drei ­lebensgroßen Chorknaben. Die Straße war schlecht beleuchtet. Ihre roten, von innen beschienenen Chorhemden strahlten ein warmes, kräftiges Licht aus. Das Wasser in einem Plastikschwimmbecken war vereist. Einige Spielsachen waren darin eingefroren. Plötzlich wurde leise ein Vorhang beiseitegeschoben. Die Glühbirnen in den Chorknaben strahlten zu stark. Das Fenster lag direkt hinter ihnen. Bunte Lampions hingen hier und dort. Ich erkannte die Silhouette nur schlecht. Doch es waren dieselben Augen wie jene am ersten Kongreßtag. Wie angewurzelt blieb ich zwischen Schnee- und Streusalzkrusten mitten auf der Straße stehen.


Beim zweiten Mal aß ich mit Lothar, einem Angestellten der deutschen Botschaft, zu Abend. Das Restaurant hieß Chez Brown. In einer Ecke spielte ein kleines Orchester mit einem Schnulzensänger. Schwarze in silbrigen Anzügen. Lothar lachte über mich:


»Ängste wegen des Krieges zu haben! Dabei kann man eine Mordsknete damit machen. Schau mal meinen Preußenkopf, blond und so. In jedem Nazifilm bekomme ich eine Rolle. Ich brauche nur zu brüllen ›Raus, raus!‹ und alle sind begeistert. ›Typisch‹, sagen sie. Und ich kassiere ab. Im Fernsehen ist es genauso. Ich könnte einmal pro Woche als Statist arbeiten. Schau meine Stiefel, der Stil ist echt. Der ehemalige Schuhmacher der SS-Offiziere arbeitet in Hollywood. Ich habe sie für eine Rolle von vierundzwanzig Sekunden bekommen. Maßge­schustert.«


Er lacht sich krumm. Genau in dem Moment ging Herman sehr langsam hinter Lothars Stuhl vorbei. Mit Sicherheit hatte er alles gehört. Er lächelte mir ölig zu. Ich tat, als sähe ich ihn nicht. Das Herz pochte mir in der Kehle. Lothar hatte nichts bemerkt.


Die dritte Begegnung fand sehr viel später statt. Ende März. Ein prächtiger Nachmittag. Die Pennsylvania Avenue wimmelte von Menschen. Die Kirschblüte schien in der Luft zu liegen. Sie würde eine Menge Touristen nach Washington ziehen. Vor einem Firestone-­Geschäft parkte ein Lastwagen am Straßenrand. Arbeiter in Overalls luden Reifen ab. Ein Trupp holte sie aus dem Laster und gab ihnen einen geschickten Tritt, der sie bis zur Tür des Lagers rollen ließ. Dort fing ein zweiter Trupp sie auf. Ich sah zunächst nur diese Reifen, die in rascher Folge meinen Weg kreuzten. Einige Passanten warteten darauf, weitergehen zu können. Ich blieb neben ihnen stehen, versuchte zu erkennen, wie man die Reifen in der Lagerhalle unterbrachte. Doch es war zu dunkel darin.


»Sieht aus wie eine Mannschaft Basketball-Spieler.«


Hermans Stimme. Er war völlig ruhig. Er trug einen Gabardine-­Anzug und einen grünen Tirolerhut. Er fuhr fort: 


»Immer noch in der YMCA?«


»Immer noch.«


»Und immer noch in der Hoffnung auf eine Dozentenstelle?«


»Immer noch.«


»Sie sind aber verbohrt. Ich könnte alles für Sie tun. Nächstes Jahr gründe ich ein Forschungsinstitut: A.V.R.I. Akademie zur Verteidigung der Rasseninteressen. Ich habe Ihnen von der Bewegung erzählt. Lesen Sie Mein Kampf noch einmal. Sie werden sehen, wie richtig er alles gesehen hat. Lesen Sie die Zeitungen hier. Vor allem in den Kleinstädten, denn dort liegt die wahre Kraft. Ich sagte Ihnen bereits, nur Amerika kann uns die Mittel für einen weltweiten Kampf an die Hand geben. Und die meisten Amerikaner sind unserer Meinung, das ist belegt. Unsere Männer sind überall.«


Beim Abladen gab es eine kurze Unterbrechung. Ich ging über die Straße, ohne Herman zu antworten. Meine Ersparnisse erlaubten mir, noch sechs Wochen zu bleiben. Höchstens.


Auf meinen Zetteln hatte ich die Telefonnummer der YMCA angegeben. Ich verstehe, daß keiner anruft. Eine jämmerliche Adresse. Ich habe ein Zimmer hinter der Selbstbedienungstheke. Am Tage dient es als Leergutlager. Ich kann erst zurückkommen, wenn der Lieferant die Flaschen abgeholt hat. Manchmal kommt er um sechs Uhr abends, manchmal erst um acht. Tagsüber irre ich in der Stadt umher. Ich schließe Wetten mit mir selbst: Erwartet mich bei der Rückkehr eine Nachricht, ja oder nein? In bald vier Monaten habe ich drei Briefe bekommen, aber alle waren abschlägig: »Your background is impressive, but so is our deficit.« Dann habe ich noch einmal bei der Universität Guilfoyle angerufen. Der Direktor ist Engländer, mit perfekter Diktion. Am Smoker-Abend hatte ich mit ihm und einem seiner Kollegen gesprochen. Am Telefon sagt er mir doch glatt: »Ich habe versucht, Sie zu erreichen. Üh! Mehrmals! Ich weiß nicht wie oft. Sie haben einen vorzüglichen Eindruck hinterlassen, üh, üh! Das habe ich Ihnen gesagt. Das habe ich Ihnen gesagt…« 


Morgens und abends nehme ich ein warmes Bad. An manchen Tagen weht ein Glutwind die großen Verkehrsstraßen hinab. Er ist voller Sand, schneidet trotz Kleidung in die Knöchel wie am Strand. An anderen Tagen regnet es derart, daß die Schuhe sich mit Wasser füllen. Ich ziehe sie aus, gehe barfuß. Der alte Regenschirm schützt nur den Oberkörper. In den Hosenumschlägen steht das Wasser. Das Gefühl, durch frisch gesprengte Salatbeete zu laufen. Gleich außerhalb des Stadtzentrums gibt es nur noch Autobahnen. Ich trotte auf den Randstreifen dahin, durch Geröll, Glasscherben, Konservendosen, verrotzte Taschentücher, Pflaumenkerne, vertrocknet oder mit noch etwas rosa Fleisch dran, schwarzes Gummigefledder von Resten zerfetzter Reifen. Ich balanciere die Bordsteine entlang, links die Leitplanke, rechts vier Spuren. Einziger Fußgänger weit und breit. Scherbengericht der Motorisierten. Feiste bullige Köpfe, die mich im Vorbeifahren verdutzt anglotzen. Eine Frau mit Lockenwicklern, allein im Auto, bläst ein Kaugummi auf. Die weiße Blase verbirgt mehr als die Hälfte vom Gesicht, zerknallt, klatscht um den Mund. Ihre Augen erscheinen wieder, völlige Gleichgültigkeit darin. Stumpf vom ewigen Blick auf die Windschutzscheibe. Langsam sammelt ihre Zunge die weiße Paste um die Lippen wieder ein. Nach ein oder zwei Kilometern komme ich stets zu irgendeinem Einkaufszentrum. Parkplätze groß wie Fluggelände. Frauen kommen vom Einkauf, sie tragen Packpapiertüten voller Konservendosen. Sie steigen ins Auto, nicht mit dem Hinterteil zuerst und dann die Füße, sondern wie die Männer: erst ein Fuß, dann der Hintern, dann der andere Fuß.


Ich irre ziellos umher. Ich warte, ich weiß nicht worauf. Ich erkunde den städtischen Friedhof. Die Toten sind nach Nationalität geordnet. Italienische Gräber aus Marmor, überthront von der Heiligen Familie oder einem Putto, der mit dem Zeigefinger gen Himmel weist. Französische Gräber mit kleinen Statuen der Jeanne d’Arc oder der heiligen Theresa. Deutsche Gräber mit Rasen und einer schwarzen Säule darauf. In der Nähe des Potomac verlieren sich die rechtwinkligen Alleen. Sie münden in ein Brachgelände, auf dem überall Schrottautos liegen. Die Karosserien sind zu Tausenden aufgehäuft, oft fünf oder sechs übereinander. Manche sind völlig verrostet, manche noch lackiert. Viele sind plattgepreßt. Ich gehe zwischen grotesken Konstruktionen umher. Zufällig aufgestapelt, die letzten halten ein wackeliges Gleichgewicht. Etwas in mir wünscht sich die Katastrophe: Daß eines dieser Wracks in dem Moment herunterkracht, wo ich vorübergehe. Noch ein Stück weiter stoße ich, wieder völlig übergangslos, auf eine gigantische Müllkippe. Ein paar grüne Müllwagen fahren davon. Hier und da steigen Rauchwolken senkrecht in den Himmel auf. Menschen, Autos, Unrat – eine einzige Entladung.


Das Streunen ist nicht mehr freiwillig. Es geschieht jetzt gezwungenermaßen. Ich stelle das Feldbett weg, falte Laken und Decken. Um Punkt neun Uhr räume ich den Platz, verlasse das große schwarze Backsteingebäude. Wenn ich schlecht geschlafen habe, bin ich durchlässiger für die Angst, die draußen herrscht. Geschäftsmänner weichen instinktiv einen Schritt zurück, wenn ich sie nach einer Straße frage. Neulich unterhielt ich mich im Gehen mit Lothar. Ein Cabrio wartete an einer roten Ampel. Als unsere Stimmen in Hörweite waren, hob der Fahrer die Fäuste, als wolle er sich schützen. Ein junger Führungskader trägt einen Helm, um nicht von hinten niedergeschlagen zu werden. Andere schnallen sich einen Knüppel um. Oder eine Reitpeitsche. Lothar zeigt mir Tränengaspatronen. Sie werden in der Außentasche getragen. Man soll zwischen die Augen zielen.


In der 14. Straße beginnt um zehn Uhr morgens der Dauer-Striptease. Der Anreißer läßt sich auf einem Schemel nieder. Sommers wie Winters. Er preist die Mädchen an wie ein Marktschreier. Gegen halb eins, gewerkschaftlich festgesetzte Uhrzeit, bringt man ihm Hamburger und Fritten. Mit vollem Mund macht er weiter. »Topless go-go! Der erste Blick ist gratis! Die Show geht weiter!« Im Etablissement daneben ist ein Fenster mit Tuch bespannt. Durch zwei Schlitze erscheinen und verschwinden zwei Frauenbeine, nur mit hochhackigen Schuhen bekleidet. Innen sitzt ein Mädchen auf einem Brett, das an Seilen hängt. Den ganzen Tag schaukelt sie vor dem Vorhang, peilt die beiden Öffnungen an, um ihre Waden einem Publikum zu zeigen, das sie nicht sieht. Noch weiter kündigt ein Plakat eine »Live Show« an. Ein Weißer und eine Schwarze begatten sich auf dem Teppich. Die Tische stehen in konzentrischen Kreisen. Die Angestellten des Viertels essen hier zu Mittag, dann gehen sie ins Büro zurück. Ein wenig aufgeheitert. Ehe sie selbst in den Sarg der Geschichte gesteckt werden. Gedrängt, gezwängt, komprimiert. Plötzlich macht sich in meinem Kopf eine G­ewißheit breit. Den ganzen Morgen war sie da wie ein ungehörter Fauxbourdon. Jetzt bläst sie ein Nebelhorn. Es läßt meine Schläfen pochen. Mechanisch beschleunige ich meine Schritte. Heute, das weiß ich, werde ich zu etwas Ursprünglichem zurückkehren. An den Anfang meiner selbst. Lust, ein Taxi zu nehmen, wie zu einem dringenden Treffen. Ich gehe schneller. Eine Stimme hinter mir beschimpft mich: »Weißer Bastard!« Ich habe wohl jemanden angerempelt. Was soll’s. Ich sage mir: zurück zur YCMA. Wie ich feststelle, gehe ich aber in die entgegengesetzte Richtung.


Vor dem Weißen Haus bemerke ich einen Menschenauflauf. Lafayette Square ist eine viereckige Wiese mit ein paar Bänken und einer Statue. Ich stoße von der 16. Straße darauf. Je näher ich dem Park komme, desto gereizter sind die Passanten. Eine Mutter zieht ihr Kind hinter sich her, droht ihm mit einem Regenschirm. Taxifahrer beschimpfen sich. Sie blockieren den Verkehr. Ich bin außer Atem. Unwillkürlich bin ich die ganze 16. Straße entlang gerannt. Alarmiert, weil irgendein Unheil droht. Ehe ich über die Straße gehe, zögere ich. Auf der Wiese stehen ein paar hundert Schaulustige auf Zehenspitzen. Jeder versucht über die Schulter seines Vordermanns zu schauen. Die Neuankömmlinge erkundigen sich. Eine üppige junge Hippiefrau mit wallendem Haar und Flickenjeans kocht vor Wut. Sie fordert das sofortige Eingreifen der Polizei. Männer und Frauen lösen sich aus der Gruppe, kommen auf mich zu. 


»Widerlich.«


»Ich dachte, das hätten wir hinter uns.«


»Es ist widerlich. Ich bin echt angewidert.«


»Hab’s kapiert, du bist angewidert.«


»Die müßte man des Landes verweisen.«


»Ich find’s auch widerlich.«


»Wir hätten nicht aus Vietnam abziehen sollen. Und sei’s nur, um Typen wie diese da hinschicken zu können.«


Ich schlängele mich durch den Verkehr. Mitten auf der Straße bleibe ich wie angenagelt stehen. Eine Vorahnung. Und wenn dieser Auflauf mich beträfe? Welche Kraft hat mich durch die Stadt bis hierher gezogen? Ein Auto bremst, hupt. Ich springe zur Seite. Über dem Dach des Weißen Hauses sieht man Hunderte von Papierdrachen am Himmel. Das ist die Mall. Die Familien nutzen den Wind und die Aprilsonne.


»Was ist da los?«


»Ich weiß nicht.«


Wenn er es nicht weiß, was macht er dann da? Ich frage noch einmal, man antwortet mir nicht einmal mehr. Ich schiebe mich zwischen den Neugierigen hindurch, diskrete Ellbogenarbeit. Niemand spricht. Je mehr ich mich der Mitte nähere, desto mehr alte Symptome kehren zurück: trockener Mund, heftiges Pulsieren einer Ader im Nacken. Eine Gewißheit, die ich noch nicht benennen kann, zieht mein Inneres zusammen. Menschen umringen mich, ich sehe noch immer nichts. Ich schaue mich um, nach rechts, nach links. Gesichter, von irgend­einem körperlichen Schock durchfahren. Sprachlos.


Ein älteres Paar vor mir verläßt den Schauplatz. Ich trete einen Schritt vor und stehe in der ersten Reihe. Ein Dutzend Muskelprotze bilden einen Kreis. Sie stehen mit dem Rücken zur Mitte, breitbeinig, die Arme gekreuzt. Herausfordernd. Ihr Blick geht über die Zuschauer hinweg. Als sähen sie uns nicht. Sie tragen den Helm der Wehrmacht, die Armbinde, schwarzweißrot mit dem Hakenkreuz. Das braune Hemd, Reiterhosen mit breitem Gürtel, Stiefel wie die von Lothar. Zuerst denke ich: ein Scherz. Eine Anti-Nixon-Maskerade von zweifelhaftem Geschmack. Dann sehe ich ihre Visagen. Totschläger. Die Menge wahrt respektvoll Abstand. Diese Kerle sind Wachposten. Hinter ihnen liegt eine Art Möbelstück im Gras. Der Gegenstand ist rot lackiert. Er mißt etwas mehr als einen Meter. Ein paar Bretter, die durch Quer- und Längsstreben verbunden sind und bloß von ein paar Nägeln zusammengehalten scheinen.


»Begreifen Sie hier etwas?«


Meine Stimme klingt sonderbar. Als riefe ich nach meiner Mutter. Der Mann, an den ich mich wende, lächelt. Er hält ein Sandwich in der Hand. Die Ecke, wo er abgebissen hat, schaut aus der Alufolie heraus. 


»Natürlich.«


»Ich nicht.«


»Hitlers Geburtstag. Er wäre heute fünfundachtzig geworden.«


Er beißt in sein Sandwich. Vermutlich ein Regierungsbeamter.


»Ich habe die Versammlung von meinem Büro aus gesehen. Es beunruhigte mich.«


»Und der Kasten in der Mitte, dieses Regalstück?«


»Das ist das Pult, von dem aus er in Nürnberg sprach. Oder in Berlin.«


»Das rote Ding da? Das beschützen sie?«


»Ich denke mal, die Polizei wird ihnen bald Beine machen.«


Meine erste Reaktion wie immer: Flucht. Doch die Menge hindert mich daran. Ich schaue mich unauffällig um, sie ist noch dichter geworden. Ich fühle mich erwischt. Zwangskonfrontation mit meiner Vergangenheit. Dreiunddreißig Jahre imaginärer Verfolgung sind zu einem rotlackierten Gegenstand geworden. Haß. Ich hasse dieses Pult. Es zertrümmern, auffressen, in Brand stecken, mit nackten Händen darauf einschlagen, es mit Steinen bewerfen. Hat man schon mal einen Menschen seine eigene Vergangenheit steinigen sehen? Nun, dies ist das erste Mal! Ich will sehen, wie dieses Möbel zusammenkracht und all meine Ängste und Phobien mit ihm. Brennen soll es! Keiner soll mehr davon sprechen! Auf daß ich frei bin! Haß! Ich wußte gar nicht, daß ich eine solche Dosis davon geschluckt hatte. Wie ein Brechreiz steigt er aus dem Magen hoch. Dieses Pult, mit Rache und mit Scheiße möchte ich es beschmieren. Daß es dampft und stinkt wie tausend Liter Gülle! Oder es erbeuten. Den Kreis durchbrechen und es erbeuten. Über den Kopf gehoben, meine dreiunddreißig Jahre Flucht wie eine Krone tragen. So durch die Stadt laufen. Unter Konfettiregen. Der Mann, der die Geschichte besiegt hat. Ich schaue mir noch einmal diese stumpfsinnigen Wachen an. Mein Zorn wird sie im Nu zu Staub zermahlen. Ach, ich kenne den Regisseur! Ein Manöver von Herman. Ich werde dieses Pult packen und ihm über die Rübe ziehen. Herman blutüberströmt, seine zwölf Nazis stöhnend am Boden. Und ich endlich frei. Triumph. Ein Weltkrieg aus meinem Leben radiert. Ich suche Hermans Augen in der Menge, um die Rechnung zu begleichen, auf der Stelle. Ich halte es nicht mehr aus. Lauwarmes Blei lastet hinter meiner Stirn. Mit getrübtem Blick bahne ich mir einen Weg. Ohne Rücksicht auf Sandalenfüße. Ich laufe. Ein Bus fährt die Pennsylvania Avenue hinunter. An der Ecke der 14. Straße hole ich ihn ein.


Um elf Uhr morgens sitzen nur Frauen im Bus. Ich hasse die öffentlichen Verkehrsmittel zu dieser Stunde, doch gerate ich immer hinein. Die Hausfrauen steigen allein ein, steigen zu zweit aus. Oder sie steigen zu dritt ein, dann steigt eine von ihnen ohne die beiden anderen aus. In ihrem Geschwätz scheint mein eigener Haß sich Luft zu machen. Wie eine schlechte Energie sich fortpflanzt. 


»Die wird schon sehen, wenn sie alt ist. Niemand wird mit ihr sprechen. Sie wird allein, allein, allein sein.«


»Das geschieht ihr recht!«


»Neulich hat sie der Nachbarin erzählt, daß die Gläser bei mir nicht sauber seien.«


»Dieses Luder!«


»Und alles hinter meinem Rücken.«


»Wir werden sie uns mal anschauen, ihre Gläser.« 


»Vom Tisch fegen sollte man sie ihr. Daß sie in die Scherben tritt.«


Ob Zorn sich unsichtbar überträgt? Habe ich sie mit einem Virus angesteckt? Haben sie die Schweißperlen auf meinen Lippen gesehen?


Mit einem Schlag bricht das Geschwätz ab. Ein Dutzend schwarzer Jugendlicher steigt in den Bus. Tennisschuhe, geschmeidiger Wildkatzengang. Einer hat sich die amerikanische Flagge auf den Hintern genäht. Pobacken wie zwei Pampelmusen. Sie lachen, schubsen sich, wissen sich als Herren. In den Ghettos organisieren sie sich. Seit langem. Sie hat der Haß befreit. Erst der Haß, dann das Bewußtsein der Schönheit. Ein pummeliges Mädchen bleibt zwischen den Sitzen stehen. Sie singt vor sich hin, tanzt auf der Stelle. Mit vollendeter Beweglichkeit und Anmut. Ihre Bewegung geht von der Hüfte aus. Als hebe sie schwere Tische mit ihrem Hintern. Von unten nach oben, von unten nach oben. Ihre Haare bilden ein Schachbrettmuster. In der Mitte jedes Quadrats hat sie sich ein Zöpfchen von der Länge eines kleinen Fingers geflochten. Ein anderes Mädchen hat eine fast weiße Haut. Ihr schwarzes krauses Haar bildet einen lockigen Ballon um ihren Kopf. Er verbirgt fast völlig Stirn und Wangenknochen. Sashiki. Ihre Ohrringe haben den Umriß Afrikas. Sie sind so lang, daß sie die Schultern berühren. Die schwarze Jugend ist der Schrecken der Weißen. Sie ist auch das einzige erotische Element in den Städten. Sie hat zu hassen gewagt. Ohne sie keine Schönheit. Der Eros der Weißen beschränkt sich auf den Sex. »You can have sex«, so wie man sagt: diese Hemden sind im Sonderangebot. Etwas Geschäftliches. Sie aber sind sinnlich, frei.


Greenbelt, Endstation. Der Wind wirbelt alte Zeitungen hoch, letztes trockenes Laub, Tauben und Staub. Alles unterschiedslos. Möchte mich daruntermischen, treiben lassen. Wie eine ausgelutschte Menschenpelle. Eine menschliche Hülle, all ihrer Gefäße und Schwämme entleert, ihrer roten, gelben, transparenten Flüssigkeiten, ihres bleichen Gestells, ihrer Darmzotten. Sich treiben lassen und nicht mehr in die Stadt zurückkehren. Das Pult nicht mehr sehen. Es vergessen. Das Gedächtnis zerstören. Es diesen Windstößen überlassen, die mir in Ärmel und Hosenbeine fahren. Wie bin ich heute morgen vor dem Weißen Haus gelandet? Irgendwo zieht jemand die Strippen, und das ist nicht nur Herman. Eine Fatalität, die einen an der Nase herumführt. Ich kann nichts dafür. Das geht von alleine los, und wie ein dressierter Affe fahre ich Rad, springe in einen abfahrenden Bus, umkreise dreimal die Arena, nehme Schiffe, Flugzeuge, laufe zu Fuß, krieche auf der Erde, weine viel. Schon Alkoholiker? Dann hält der Mechanismus an. Für eine Weile ist die Hatz vorbei. Die eigene Mitte finden, die große Sache. Für mich soll es genau heute geschehen. Die Fluchten stoppen. Ein für allemal. Ich werde das Pult erbeuten, das steht fest. Ich spüre schon die Trunkenheit, die sich in meinen wirren Läufen vorbereitet hat. Im Schatten meiner eigenen Worte kommt ein Sinn auf. Ein Sinn, berauschender als Worte ihn fassen können. Ein Leben eigentlich. Mit etwas Abstand erkenne ich, daß diese Aufbrüche einer Logik folgten. Für Momente fühle ich mich der finalen Verzückung so nahe. Schlimmer denn je hat es mich heute morgen erwischt. Ich weiß: Noch einen Schritt weiter, und ich werde sehen. Ich werde mein Leben sehen, ich werde sehen, warum ich so weit laufen mußte. Ein einziger Schritt. Aus der neugierigen Menge hinaustreten, in den Kreis der Männer mit Armbinde treten, das Pult mit beiden Armen packen. Es hochreißen wie Hanteln über den Kopf. Es könnte keine berauschendere Apotheose geben. 


Am Waldrand verkünden große Fahnen: »Mobilhome Park«. Etwa fünfzig Anhänger sind dort abgestellt. Häuser auf Rädern. Auf ein paar Ziegel gestellt, Baumstümpfe oder Mauerstückchen. Sie sind so groß wie Eisenbahnwagen. Neben jedem parkt ein Chrysler. Wenn die Bewohner umziehen, rufen sie eine Art Pannenhilfe herbei. Man nimmt die Wäsche ab, holt den Hund herein und die Fernsehantenne, dann bringt man zwei gelbe Plaketten an: »Sondertransport«. Eines der Häuschen ist zu verkaufen. Zahlbar in hundertvierundvierzig Monatsraten. Die Türen sind offen, man sieht ins Innere. Schmiedeeisen aus Plastik, Holzvertäfelung aus Plastik. Lust, bei diesen Nomaden einzutreten. Zu sagen »Ich bin wie ihr«.


Auf den ersten Blick scheint die Waldstraße verlassen. Niemand geht spazieren, keine Autos. Nur Ahornbäume. Ziemlich schlechte Waldpflege. Das Gelände ist leicht abschüssig. Dann bemerke ich die Briefkästen. Sie sind aus Aluminium, an einem Pfosten befestigt. Manchmal sind sie an einen jungen Baum genagelt, der einen Meter über dem Boden abgesägt wurde. In goldenen Lettern klebt der Name der Familie drauf. Oft gibt es einen zweiten Briefkasten: rot für die Washington Post, gelb für den Evening Star. Die Häuser stehen zwischen den Bäumen versteckt. Zumeist auf Rädern. Sie sind weniger als fünf Geh­minuten voneinander entfernt. Den Spaziergang im Wald begleitet eine Folge von Gebell-Einlagen. Jeden Wohnwagen hütet ein grimmig aussehender Hund. Ich habe Angst. Keine Möglichkeit, diese Straße zu verlassen. Angst vor den Hunden, Angst in die Stadt zurückzukehren, Angst allein zu sein. Ich sehe mich unablässig um, spähe ins Unterholz. Ich nähere mich einem Haus. Die große dänische Dogge dreht sich wie irre um sich selbst. Ihre Kette sieht verrostet aus. Ich steige auf ein Brett, das als Treppe dient und klopfe gegen die Scheibe. Drinnen höre ich Schritte. Dann nichts. Man nimmt mich vermutlich in Augenschein. Ein Riegel wird zurückgeschoben, ein Vorhängeschloß fällt, ein Schlüssel dreht sich zweimal in einem Schloß, ein Metallbolzen wird hochgehoben. Die Tür öffnet sich zehn Zentimeter. Sie wird von einer Kette zurückgehalten. Ich sehe die Hälfte eines Männergesichtes. Der Mann schreit: 


»Wo ist Ihr Auto?«


»Ich habe keins. Ich habe mich verlaufen.«


Er verschwindet, kommt zurück. Er richtet einen Gewehrlauf durchs Fenster.


»Hauen Sie ab!«


Ich gehe zur Straße zurück. Es gibt keinen Pfad, um sie zu verlassen. Ein Spaziergänger ist verdächtig. Zu Fuß gehen, ein subversiver Akt. Es muß zwölf Uhr mittags oder gegen eins sein. Ins Weite gelangen. Das Pult in meinem Kopf loswerden. Oder die Wachen kaltmachen. Ich schmecke Blut im Mund. Ich kannte diesen mörderischen Wahn in meinem Körper nicht. Er ist gefährlich. Eine Gereiztheit steigt in mir hoch, vermischt mit einem vagen Verlangen. Sie sehen, berühren, die Spuren eines anderen Zeitalters. Die Vergangenheit, plötzlich ein Gegenstand zum Anfassen, gelackt. Sich deutlich im Raum abzeichnend. Überhaupt keine Chimäre mehr. Ein Ding unter Dingen. Lokalisiert, fotografierbar. Man kann es Touristen zeigen wie die Regierungspaläste drum herum. Kann das Baujahr und den aktuellen Wert in Dollar angeben. Den Sammlerpreis.


»Ich wohne hier seit zehn Jahren. Ich habe noch nie ein Wort mit den Nachbarn gewechselt.«


Abschiedsszene vor einem Mobilhome. Die Eltern zu Besuch. Die Reihe stereotyper Sätze. Gute Fahrt, schön, daß ihr da wart. »God bless you, take it easy, fahr zur Hölle.« Die dicke Karre entfernt sich. Sie hätten mir einen Platz anbieten können. Aber nein. Ich mache auf dem Absatz kehrt. Genug Zeit mit Spaziergängen verloren. Ich bin verabredet. Ich schlucke den Staub, den das Auto aufgewirbelt hat, laufe ein paar Schritte hinterher. Der Fahrer beschleunigt. Er sieht mein Winken nicht. Oder will es nicht sehen.


Ich muß noch einmal an dem Typen mit dem Karabiner vorbei, denn es gibt keinen anderen Weg. Die Straße ist leicht abschüssig. Von einer kleinen Anhöhe aus erblicke ich einen schwarzen Fleck. In der Mitte der Straße erwartet er mich. Erst kann ich ihn schlecht erkennen. Ungefähr dreihundert Meter trennen uns voneinander. Der Fleck bewegt sich langsam. Ich gehe langsamer. Je näher ich komme, desto deutlicher meine ich es knurren zu hören. Der Alte hat die Dogge losgelassen. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Behutsam bewege ich mich seitlich bis zum Straßenrand, mit regelmäßigen winzigen Schritten. Wie König und Königin mittags von der Seite her an der Uhr vorbeigleiten. Ich verschwinde hinter einem Gebüsch, ohne den Hund aus den Augen zu lassen. Mit genau berechneten Schrittspannen, von einem Stein zum nächsten, dringe ich ins Unterholz. Bei jedem Knacken eines Zweiges erstarre ich, spitze die Ohren. Völlige Stille. Selbst das Hecheln eines Hundes wäre zu hören. Der Wald erstreckt sich an einem Abhang. Wie einst bei den Pfadfinderspielen klettere ich hinauf, spähe, prüfe den Felsen, ehe ich die Füße darauf setze, weiche den Zweigen aus. Für Augenblicke treten die Bäume zurück. In der Ferne das silbrige Band der Straße. Ich ändere die Richtung, gehe parallel zu ihr. Auf einem Hausdach spiegelt sich die Sonne. Dort warten das Gewehr und der große Hund auf mich. Allmählich wandelt sich der felsige Boden in Schotter. Kiesel lösen sich mit einem Lärm, der das Blut gerinnen läßt. Damit ich nicht mehr zu hören bin, beschließe ich eine Pause einzulegen. Eine fast waagerechte Felsplatte ist mit Moos bedeckt. Ich strecke mich darauf aus. Doch sogleich ein Ansturm von Botschaften: Los, klau eine Eisenstange auf einer Baustelle, mach Sägemehl aus dem Pult. Kauf Dynamit, in Amerika ist alles möglich. Laß dich per Fallschirm vom Washington Monument herab. Stifte Randale unter den Zuschauern, löse falschen Alarm aus. Murks den Alten in seinem Wohnwagen ab, nimm seine Knarre. Schieß in die Menge. Schieß auf die Gorillas mit Armbinde. Schieß auf Herman. Schieß auf dieses kümmerliche Bretterkonstrukt. Ich springe auf. Der Hund ist mir egal. Ich hebe einen großen Stock auf, bahne mir einen Weg durch das Gebüsch. Das tote Holz knackt. Einen Kilometer weiter stoße ich auf die Straße.


An der Ecke der North Capitol Street und der New York Avenue ist eine Snackbar. Man serviert dort ausschließlich paniertes Hähnchen und Fritten in Maisöl. Kentucky Fried Chicken. Der Bus hält vor diesem Restaurant, ich springe hinaus. Die Anonymität des Ortes kommt mir gelegen. Ein aseptischer Innenraum mit glänzendem Kachelboden. Ich habe nicht den Mut, direkt aufs Weiße Haus zu marschieren. Die Mauern sind mit hellgrauem, die Tische und Bänke mit rotem Resopal verkleidet. Große Scheiben schauen auf den Gehsteig. Man wechselt trübe Blicke mit den Passanten, doch sie sehen einen nicht wirklich. Könnte ich doch aufhören zu denken. Keine Pläne mehr schmieden, mich nicht mehr erinnern. Chlorgeruch ausströmen wie diese frisch geputzten Kacheln. Dem Glas und Aluminium gleichen. Meine Wünsche steril machen. Diese Reliquie des Reichs vergessen, die in meinem Kopf kreist und kreist. So funktional sein wie ein amerikanischer Self-Service. Im hinteren Teil der Snackbar drei gleichgroße Bereiche: Der Stand, an dem man die Schachtel mit dem Hähnchen nimmt, der riesige Mülleimer, in den die Schachteln geworfen werden, die Toiletten, um den mehligfetten Teig loszuwerden. Ein Plakat verkündet: »Bitte räumen Sie die Plätze unverzüglich nach dem Verzehr«. An diesem Ort besteht keinerlei Gefahr, angesprochen zu werden. Jeder bestellt eine Portion, erhält ein Ticket, wartet, daß seine Nummer über den Lautsprecher ausgerufen wird. Die zwölf Angestellten haben die gleiche Hautfarbe: Milchkaffee. In den Südstaaten zeigte einst eine kleine Farbprobe am Eingang der Kirchen die Hautfarbe der Besucher an. Heute trifft der Chef die Auswahl. Eines der Mädchen schiebt mir eine Schachtel hin. Auf die Pappe ist ein Porträt gedruckt, der Erfinder des Rezepts, und das Rezept selbst: »Die Geschichte von Colonel Sanders. Der Colonel briet als erster Hähnchen unter Dampfdruck, wodurch das Fleisch den Saft und seinen ursprünglichen Geschmack behält. Nach jahrelangen Versuchen entdeckte er eine Mischung aus elf Kräutern und Gewürzen. Daraus wurde sein vielgerühmtes Geheimrezept. Heute sind die Brathähnchen von Colonel Sanders ein internationales Unternehmen. Besuchen Sie den Colonel.«


Ich setze mich in eine Ecke. Jeder ist über sein Stück altes Hähnchen gebeugt. Ich nage an etwas Flügelartigem. Auf der Straße geht ein Mädchen in einem fast durchsichtigen rosa Nachthemd vorbei. Sie ist schwanger und trägt keine Unterwäsche. Ihre nackten Füße sind schmutzig. Man sieht ihre Brüste und den dunklen Fleck ihres Geschlechts. Neben ihr geht ein Japaner, kleiner als sie. Auch er hat keine Unterhose an. Er trägt nur eine Frotteehose, die nichts formt noch hält. Gerade als sie die Straße überqueren, fährt in aller Ruhe ein Rettungswagen über eine rote Ampel. Kurz vor ihnen beschleunigt er plötzlich. Die Sirene heult. Der Japaner zieht das Mädchen zwischen zwei parkende Autos. Die Fahrer des Rettungswagens lachen sich schlapp, verlangsamen wieder. Die Sirene verstummt.


Bis zum Weißen Haus sind es etwa fünfzehn Straßen. Ich meide die Blicke der Passanten, betrachte die Auslagen. Niemandem in die Augen sehen. Nicht die Fassung verlieren. Die Modegeschäfte haben in diesem Viertel zwei Schaufenster. Eins für die Weißen, eins für die Schwarzen. Im ersten sind gestreifte Anzüge und einfarbige Blusen ausgestellt. Im zweiten gelbrote Kostüme, gestreifte Jacketts in Regenbogenfarben, große bunte Hüte, rosa Zylinderhüte, Absatzschuhe, die verrücktesten Seiden und Jerseys. Ein Mann fährt im Rollstuhl. Er hält vor jedem Schaufenster, mustert die Auslagen Stück für Stück. Sehr konzentriert, als bilde er sich. Ich stelle mir den Ernst vor, mit dem er seine künstlichen Beine festschnallt. Der schwere Moment im Tagesablauf eines Behinderten, wenn man ihm die Prothese ansetzt. Und wenn ich ihn anspräche? »Verzeihen Sie, mein Herr, ich habe Angst vor einem gewissen Herman.« Oder: »Verzeihen Sie, ehe es Nacht wird, werde ich sein wie Sie.« Wie würden die Worte über die Lippen kommen? Ein falscher Ton, und was mir an Kühnheit bleibt, wäre für den Nachmittag verloren.


Selbst wenn ich unbeschadet davonkomme, werden meine Freunde mich wiedererkennen? Werde ich nach so langem Schweigen noch den richtigen Ton mit ihnen treffen? Meinen Reiseberichten werden sie halbherzig zuhören. Sie werden sich sagen: »Schau an, er hat sich gekrümmt.« Werde ich nicht nach Moder riechen? Joans Tonfall, als sie fragte: »Soll dein Davonlaufen noch lange so weitergehen?« Und Louis, wo ist er? Wir waren einander ähnlich. Ehe ich ihn kannte, war ich eine starke Dosis Freiheit, die meine Freunde überforderte. Sie waren verloren damit. Louis nicht. Doch habe ich nicht Glück? Nicht jeder reist nach Amerika. Nicht das Schuldgefühl bedrückt mich. Doch um ein Nichts steigt ein sonderbares Schluchzen in mir auf. Manchmal nehme ich einen Faden: dreißig Zentimeter gleich dreißig Jahre. Ich verdreifache die Länge, das ist das Maximum eines Lebens. Dreimal die jämmerliche Dauer, die ich schon durchlaufen habe, so ärmlich möbliert.


Ein Lastwagen fährt im Rückwärtsgang in eine Toreinfahrt. Ein alter Schwarzer sitzt mit dem Rücken an der Mauer. Er genießt die ersten Sonnenstrahlen. Der Fahrer kurbelt die Scheibe herunter und ruft:


»He, weg da!«


Der Alte bewegt sich nicht. Die Wagentür öffnet sich. Der wütende Fahrer verabreicht ihm einen Fußtritt. Der Alte fällt zur Seite, ohne seine Haltung zu ändern. Der andere lacht los, winkt einem Polizisten. 


»Herr Polizist, eine Leiche!«


Gemeinsam ziehen sie ihn ein Stück weiter, decken ihn mit zwei Säcken zu. Sie kichern. Der Lastwagen setzt zurück, verschwindet im Hof. Ich bin vollkommen allein. Auch dieser steife Körper auf dem Boden ist ein Feind.


Die Menge ist immer noch da. Man sieht nur die Rücken. Ich trete entschlossen näher, dringe in diese Masse aus lebendigem, schlecht riechendem Fleisch. Mit der Schulter öffne ich mir einen Durchgang, gehe seitlich voran. Die Leute treten beiseite, ohne daß ich sie anrempeln muß. Vermutlich murmele ich Drohungen. Wie werden sie gleich reagieren? Werden sie Partei ergreifen? Wohl eine Weile schon habe ich mit mir selbst geredet. Yoschko ist aus meinen Selbstgesprächen verschwunden. Ich hatte viel von Heiterkeit gesprochen und von Sein-Lassen, auch das ist verschwunden. Ich erkenne mich nicht wieder: gedankenlos, willenlos. Doch entschieden. Im Passiv, wie eine Sache entschieden ist. Durchaus gegen meinen Willen in diesem Volksgetümmel unterwegs. Ich habe den Bus in die Stadt zurück genommen, denn eine andere Kraft bastelt an meinem Leben. Sie belagert meinen Brustkorb. Mit meinem allerersten Wimmern ist sie in mich eingedrungen. Sie wird mich bis zum letzten Seufzer umtreiben. Hierselbst, Lafayette Square, erstickt sie mich. Eine Atemlosigkeit, die bewirkt, daß Köpfe sich nach mir umwenden. Endlich den Atem der Geschichte direkt ins Gesicht. Ich bin völlig außer mir. Wie ein Schüler, ehe die Striptease-Tänzerin ihr letztes Sternchen fallen läßt.


Es sind zwölf, wie heute morgen. Die Stiefel gewichst, die Arme gekreuzt. Sie haben sich den ganzen Tag nicht von der Stelle gerührt. Ich mustere die Physiognomien, bis mir die Augen brennen. Ihre Formen verschwimmen auf einmal. Sie fließen ineinander wie zu einer Mauer. Das geschieht ganz plötzlich, wie der Effekt einer Tränengasbombe. Eine aschfarbene Mauer. Sie erstreckt sich von einem Ende des Gesichtsfeldes zum andern. Ich beuge mich ein wenig vor, nehme Anlauf. Mit gesenktem Kopf renne ich los. American Football. Ich höre Ziegel herabstürzen, dann einen langen Pfiff. Ich rolle in etwas Feuchtes. Meine Schultern berühren meine Fußsohlen. Mein Kopf wird nach hinten gerissen. Ich sehe Herman über mir stehen. Er hat sich einen kleinen Metallgegenstand zwischen die Lippen geschoben und bläst hinein. Seine Wangen blähen sich aufs Äußerste. Er ist rot. Mit den Händen fuchtelt er in alle Richtungen. Der Abstand seiner Beine verjüngt sich nach oben hin, darüber ragt der Kopf. Das Pfeifen hält an. Mir tun die Nieren weh. Meine Füße graben sich ins Gras. Ich ramme die Zehen in den Boden. Wie in Startblöcke. Mit einem Ruck drehe ich mich um, krümme mich. Dann stürme ich mit Gewalt voran, stoße mich von den Grasbüscheln ab. Ich rase auf die Mauer los. Sie ist nicht mehr da, ich falle hin. Meine Rippen schmerzen. Ich sehe nichts mehr. Hermans Gesicht ist verschwunden wie es aufgetaucht ist. Nur das Pfeifen kommt näher. Ich robbe bäuchlings voran. Auch ohne etwas zu sehen weiß ich, wo das Pult ist. Ich rutsche aus, stütze mich auf die Ellbogen. Etwas hält mich an den Füßen zurück, ich befreie mich. Ich strecke die Arme vor, so weit es geht. Ich ziehe die Knie unter den Bauch, schwinge mich nach vorn. Meine Finger stoßen an etwas Festes. Wie ein Tischbein. Ich kralle mich mit der Rechten fest. Die Linke tastet, findet das andere Bein. Ich werde nicht loslassen. Ich habe eine wilde Erektion wie niemals in der Liebe. Eine letzte Anstrengung, ich kugele mich ein. Schwinge mich vor, mit meinem ganzen Körper auf das Pult. Ich höre die Bretter krachen. Ich drücke den Gegenstand in meine Arme, drücke weiter, die Holzverstrebungen bersten. Unter dem Gewicht meines Körpers wird die jämmerliche Konstruktion plattgemacht. Sieg! Ich schmiege mich an die Reste des Möbels. Ich winde mich und schwanke im Hagel der Schläge, zucke rhythmisch. Eine Rippe ist gebrochen.


Ich sehe einen untoten Körper, dicke rote Ameisen krabbeln darauf. Ich sehe eine strahlende Sonne, bereit, mich einzusaugen. Ich sehe einen Jungen, der murmelt »mein Leben wird wahr«. Ich sehe einen Kamikazepiloten an einem Berg zerschellen. Ich sehe einen blutüberströmten Hund im Schatten eines Karrens traben. Ich sehe Feuerwehrleute auf einem dahinrasenden Auto stehen und sich Sauerstoffflaschen auf den Rücken schnallen. Ich sehe Geschichtsbücher auf ein Fließband fallen wie Koffer am Flughafen. Ich sehe einen Nazi sich die Lippen an einer Pfeife verbrennen. Ich sehe Herman nach Hause gehen und sagen: Jetzt brauche ich eine Orgie. Ich sehe einen Plattenspieler durchdrehen, mit einer Platte mit Gelächter darauf, die sich immer schneller dreht. Flugtickets stellen sich in der Landschaft auf wie eine Blasphemie. Ein Kino voll mit Schwarzen grölt vor Lachen, weil man einen Weißen zusammenschlägt. Ein Kino voll mit Weißen grölt vor Lachen, weil man einen Juden zusammenschlägt. Ich sehe einen Jungen weinend eine ausgerenkte Puppe filmen. Ein Kind wird von der Menge gelyncht, weil es Zigaretten gestohlen hat. Ich sehe das Meer. Ich sehe die Scheinwerfer einer Fähre den Steg suchen nach der Durchquerung der Nacht.


Ich lasse das Pult nicht los. Ich habe es mit der Verzweiflung eines verhunzten Lebens umklammert. Jetzt bläht mich grimmiger Jubel. Meine Finger krallen sich um die Holzbeine. Krämpfe steigen bis in die Schultern hoch. Die Handgelenke zittern unter der Anspannung. Ich wußte nichts von einer solchen Energie in mir. Endlich Zugriff auf die Vergangenheit. Endlich beherrsche ich sie. Nicht mehr sie ist es, die mich hält. Ich halte sie, ich habe mich ihrer bemächtigt, das ist unwiderruflich. Ich fühle mich nicht mehr ohnmächtig, wenn sie mir a­ufstößt. Niemand wird mir die Schrauben lockern. Meine Nägel werden in das Holz dringen. Meine Hände werden sich in kalzinierte Krallen verwandeln, eins mit ihm werden. Ich habe dieses Pult mit Haß gepackt, doch die Umarmung schwenkt in Jubel um. Voll Leidenschaft drücke ich es an mich.


So habe ich am fünfundachtzigsten Geburtstag des Führers mit der Gegenwart kopuliert. Mit drei Jahrzehnten Verspätung haben mir Nazistiefel in den Bauch getreten. Einen sonderbaren Weg habe ich gehen müssen. Ich habe mein Leben nach hinten verlängern müssen, anstatt es nach vorn zu treiben. Ich habe es ausdehnen müssen bis zu dieser von Stacheldraht umzäunten Zone, der ich gerade entkommen wollte. Ich habe mein Leben rückwärts durchlaufen. Ich komme abgestumpft an, doch ich habe gesehen. Ich habe die Vergangenheit zerstört, ich habe nichts mehr zu benennen. Jetzt möge das Leben mich leben. Ich habe den Ursprung jenseits aller Ursprünge gesehen. Am Bestimmungsort angelangt. Zenit. Ich weiß, daß ein Lebensweg, sogar ein unannehmbarer, angenommen werden kann.


Ich möchte, daß eine Stimme mich weckt: *»Das Schlafen hat dir gut getan.« Ich möchte die Augen ein wenig öffnen und eine Frau in einem japanischen Bademantel erblicken. Ich möchte, daß sie mit einer Hand die Kordel um ihre Taille schlingt und mit der anderen ein Handtuch ums Haar wickelt. Ich möchte, daß sie sagt: *»Ich habe ein heißes Bad genommen, bis du aufwachst.« Daß ihre Stimme sanft ist, daß sie barfuß auf dem Teppich geht. Daß sie ihr Handtuch auf einen Stuhl wirft, ihre feuchten Haare nach hinten schwingt, daß sie ihren Morgenmantel am Gürtel verknotet. Ich möchte, daß sie vom Bett zum Fenster geht, einen Vorhang öffnet. Draußen stünde ein blühender Hartriegelstrauch. Ich möchte, daß sie lächelnd sagt: *»Die ganze Nacht hast du dich an die Bettpfosten geklammert. Deine Finger waren wie Zangen.« Ich möchte, daß sie sich über mich beugt, daß sie den Verband um meinen Rumpf untersucht. Ich möchte, daß sie nach einem Luxusshampoo riecht. Ich möchte, daß sie einen langen rosa Hals hat.


Ich kann schon besser gehen. Die Schmerzen in den Nieren lassen nach. Für die Straßen von Washington habe ich den Blick eines Veteranen. Doch ich meide noch den Platz vor dem Weißen Haus. Im Postamt der 14. Straße und der New York Avenue gibt eine Frau ein Paket auf. Sie trägt eine Männerjacke. Ihre Züge sind ernst. Sie sagt zu mir: 


»Sie wandern gerade ein. Ich habe ein Auge für solche Leute. Sie haben gut daran getan. Wie hart die ersten fünf Jahre auch sein mögen, wir sind alle froh, den Sprung gemacht zu haben. Nach fünf Jahren kann man die Staatsbürgerschaft beantragen. Am Ende ist das Leben hier besser. Sie werden sehen.«


Ich rufe Lothar an. Die Botschaft streckt mir den Preis für das Ticket vor. Bei der Lufthansa kennen sie das schon. In der Flughafenhalle stelle ich einem schwarzen Träger eine Frage. Er antwortet mir: »Weißen gebe ich keine Auskünfte.«


Männer im Blaumann laufen über das Abfluggelände. Sie tragen eine Art Kopfhörer, große Stöpsel gegen den Lärm. Wenn sie hinter den Triebwerken vorbeigehen, bücken sie sich, stemmen sich gegen die ausgestoßene Luft. Die Motoren blasen den Staub in alle Richtungen. Durch eine offengelassene Tür dringt er in die Abfertigungshalle. Meine letzte Reise. Ich werde bei jenen sein, die gerade erst zu leben beginnen. Ich möchte das Leben am Werk sehen, ich werde dorthin gehen, wo es Kinder gibt. Keine skandierten Worte mehr. Ich werde jene grüßen, die schweigen. Abends werde ich allein mit meinem Transistorradio Abendbrot essen. Ich werde nicht beten. Ich bin durch zu viel Rauch gekommen. Mir brennen die Augen, ich sehe nur noch, was gegenwärtig ist.


  • 1968
  • trauma
  • autobiographie

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Reiner Schürmann

Reiner Schürmann

est né à Amsterdam et a grandi à Krefeld. Il entame en 1960 des études de philosophie à Munich, interrompues par un séjour dans un kibboutz en Israël. En 1961, il entre comme novice dans un monastère dominicain en France, puis étudie de 1962 à 1969 la théologie à Saulchoir, dans l'Essonne, près de Paris ; effectuant par ailleurs un séjour à Fribourg où il suit des cours dispensés par Heidegger. En 1970, il est ordonné prêtre dominicain ; ordre qu'il perd en 1975. À partir du début des années 1970, il vit aux États-Unis, où il est nommé professeur par Hannah Arendt et Hans Jonas à la New School for Social Research de New York. Il meurt en 1993 du sida. Il a rédigé toute son importante oeuvre philosophique en langue française.

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Reiner Schürmann: Ursprünge

Reiner Schürmann

Ursprünge

Traduit par Michael Heitz et Esther von der Osten

Gebunden mit Schutzumschlag, 224 pages

PDF, 224 pages

Ein junger Deutscher in den sechziger Jahren schreibt hier, heimgesucht von einer übergroßen Sensibilität für die Allgegenwart der Vergangenheit. Geradezu körperlich trägt er in seiner eigenen Person die Unfähigkeit aus, zu vergessen, was er selbst nicht bewusst erlebt hat: Krieg und Vernichtung. Die stark autobiographisch geprägte Erzählung folgt den zahlreichen Etappen einer Suche nach den eigenen Ursprüngen, zeichnet Aufbrüche, Fluchten, Irrwege nach. Da sind die Kindheitserlebnisse der unmittelbaren Nachkriegsjahre auf dem väterlichen Fabrikgelände, wo die quälenden Fragen erwachen, da ist ein Jahr zwischen Überschwang und Angst in einem israelischen Kibbuz, da ist das auf einer Idylle des Vergessens wiedererstehende Freiburg der späten sechziger Jahre, in das der jüdische Freund auf Besuch kommt, da ist schließlich das mit Massen von Emigranten geteilte Bemühen um eine akademische Anstellung in Amerika, was zu grotesken Begegnungen, aber auch in eine neue Zukunft führt… »Ursprünge« ist ein sehr persönliches Buch, aber auch ein Schlüssel zum Verständnis einer ganzen Generation zwischen Enttäuschung und Wut, Anpassung und Aufbegehren. Schürmanns Schreibweise ist von irritierender Präzision, entwaffnender Direktheit und schmerzhafter Konsequenz. Schürmanns einziges literarisches Werk erschien 1976 in Frankreich und wurde mit dem Prix Broquette-Gonin der Académie Française ausgezeichnet. Im Umweg über die französische Sprache, über 30 Jahre nach Erscheinen, ist die hier vorgelegte deutsche Erstausgabe ein auch für die heutigen Generationen eminent wichtiges Buch.