Alexander Kluge, Joseph Vogl: Was für einen Roman erzählt die Börse?
Was für einen Roman erzählt die Börse?
(p. 247 – 258)

Bankrotte des 20. Jahrhunderts

Alexander Kluge, Joseph Vogl

Was für einen Roman erzählt die Börse?

in: Soll und Haben. Fernsehgespräche, p. 247 – 258

ROMANE verbinden menschliche Erfahrungen 
zu einem POETISCHEN NETZ / 
Das genaue Gegenteil davon macht ein BÖRSEN-CRASH / 
Zum Verhältnis von BÖRSE und ROMAN –




Kluge: Wenn Sie einmal ins Auge fassen: Bankrotte des 20. Jahrhunderts. Wo würden Sie die festmachen?


Vogl: Es gibt natürlich die herausragenden Daten 1923 und 1929. Neunzehnhundertdreiundzwanzig passierte das, was man galoppierende oder Hyperinflation nennt, das Zusteuern auf das schwarze Loch des Staatsbankrotts. Und der Schwarze Freitag 1929 war ein Datum, an dem ausgehend von der Wall Street in New York, mit dem Umfallen …


Kluge: … mit einem Tag Verschiebung zum Black Thursday in den USA kommt die Katastrophe in Europa, mit einem Tag Verspätung, am Schwarzen Freitag an, benannt nach einem Unglückstag, den man bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen kann. 


Vogl: Das kommt hier an wie eine Sturmwelle, in Deutschland, in der Weimarer Republik. Von beiden Daten hätte man in früheren Zeiten wohl gesagt, dass sie rein spirituelle Ereignisse sind, Ereignisse, die wenig mit materiellen Dingen, mit Materiezuständen zu tun haben, sondern …


Kluge: Von Saulus zu Paulus wird also ein Bekehrungserlebnis wirksam.


Vogl: Man könnte es mit einem Ausdruck von Gilles Deleuze als eine Art körperlose Transformation begreifen: Es passiert etwas. An den Körpern ist das Ereignis nicht ablesbar, und dennoch hängen die Körper wie Marionetten an diesem Ereignis und fangen an, nach diesem Ereignis zu tanzen, die Gebäude bleiben stehen, die Börse bleibt stehen, die Architektur …


Kluge: Sie bleiben stehen, wie bei Dornröschen. Vom Jahr 1929 bis 1932 bleibt etwas stehen.




Die vergessene Firma
Inmitten des Verfalls der Kurse am Schwarzen Donnerstag 1929 hielten sich, ganz unbeachtet, die Werte einer Aktiengesellschaft namens Phönix & Agros AG. Die Gesellschaft schien Boden­flächen auf Zypern zu besitzen und betrieb alchemistische Werkstätten in Aleppo, wo sie in Labors Spitzenweine chemisch nachahmte; auch hatte sie Entwürfe für populäre Getränke hergestellt, die bis Mitte des Jahrhunderts auf die Märkte gebracht werden sollten.
Ob irgend jemand an den im Prospekt der Aktiengesellschaft ausgewiesenen Aufgaben im Oktober 1929 noch arbeitete, weiß man nicht. Die Geschäfte der Firma wurden von einer Rechtsanwaltskanzlei in Athen treuhänderisch abgewickelt. Die Aktienmehrheit befand sich im Besitz enteigneter südrussischer Adelsfamilien und einer in der Sowjetunion zwangsaufgelösten Versicherungsgesellschaft; die A­dligen galten als verschollen. Diese Aktionäre verhielten sich ruhig. Niemand fragte nach den Aktien, niemand verkaufte auch nur ein Stück. So blieben die Kurse dieses Titels bis 1932 kon­stant auf der Höhe des 4. September 1929, ein einsamer Höchststand. Als ein Analyst dann einen Posten davon...

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Alexander Kluge

Alexander Kluge

est un réalisateur, producteur de télévision, écrivain et scénariste. Considéré comme l’un des représentants majeurs du Nouveau Cinéma allemand (années 1960-1970), il a par ailleurs obtenu en 2003 le prix Georg Büchner pour l’ensemble de son œuvre littéraire.

Autres textes de Alexander Kluge parus chez DIAPHANES
Joseph Vogl

Joseph Vogl

enseigne les lettres modernes à l’université Humboldt de Berlin. Auteur de nombreux ouvrages de philosophie, de théorie littéraire ainsi que de sciences culturelles et des médias, il a par ailleurs traduit en allemand des œuvres de Deleuze, Lyotard et Foucault.

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Alexander Kluge, Joseph Vogl: Soll und Haben

Das deutsche Privatfernsehen ist nicht eben bekannt für seine niveauvollen Diskussionsformate; umso überraschter hält der mitternächtliche Zapper inne, wenn auf einem der Kanäle Sätze fallen wie: »Ökonomischer Aberglaube ist so etwas wie das Spektrum bürgerlicher Tugenden« oder »Die Lösungen liegen immer auf der Straße, im Verkehr«. Er ist, unzweifelhaft, in eines der im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdigen Kulturmagazine von Alexander Kluge geraten.

Alexander Kluge, der wohl eigensinnigste Autor, Filmemacher, Philosoph, Kulturtheoretiker, Regisseur, Medienpolitiker und Chronist Deutschlands, produziert seit 1988 unabhängige Kulturmagazine im deutschen Privatfernsehen. Seit 1994 ist der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl regelmäßiger Gast in seinen Sendungen. Alexander Kluges charakteristische Interviewtechnik hat in ihm ihr kongeniales Gegenüber gefunden. Ergebnis der beiderseitigen Passion sind über vierzig Fernsehinterviews, die eine eigene Kunst der zielführenden Abschweifung kultivieren und das Genre völlig neu erfinden.

Soll und Haben versammelt erstmals eine Auswahl dieser Gespräche in Buchform. Das thematische Spektrum reicht quer durch die Zeiten und Kulturen. Ob Vogl jedoch über Amoklauf spricht, über Kapitalismus in Ostindien, globalisierte Gefühle, politische Tiere oder den geheimen Zusammenhang von Terror und Macht, Dichtung und Bürokratie, Kluges insistierende Präsenz bringt den Befragten nicht nur immer dazu, mehr und anderes zu sagen als das vorher Gewusste, das öffentlich bereits Niedergelegte. Und immer ergeben sich auch schlaglichtartige Erhellungen der aktuellen Verhältnisse: »Aus der Ferne kommt unser Nächstes zurück«.